Das Konzept “Klassifizierung” begegnet Herstellern von Medizinprodukten in vielfältiger Gestalt: bei der Entwicklung und Zulassung von Produkten, beim Aufbau von Organisationen und beim Verfassen wissenschaftlicher Texte.
In diesem Artikel erfahren Sie,
- warum schlechte Klassifizierung Ihren Erfolg gefährdet,
- wie Sie die typischen Fehler vermeiden und
- wie Sie die Klassen so bilden, dass Klarheit herrscht – die Basis für effektives und effizientes Arbeiten.
1. Was Klassifizierung und Klassierung sind
a) Abgrenzung von Klassifizierung und Klassierung
Die Aufgabe der Klassifizierung besteht darin, Klassen – auch Kategorien genannt – zu bestimmen und diesen Klassen Elemente zuzuordnen.
Streng genommen unterscheidet man zwischen Klassifizierung und Klassierung:
- Klassifizierung
Klassifizierung ist das Bilden von Klassen durch das Festlegen von gemeinsamen Merkmalen. Es entspricht dem Bilden von Kategorien und wird daher auch als Kategorisierung bezeichnet. - Klassierung
Die Klassierung ist das Zuordnen von Elementen zu den zuvor bestimmten Klassen anhand ihrer Merkmale sowie der Klassifizierungsregeln.
Umgangssprachlich trennt man aber Klassifizierung und Klassierung nicht und verwendet für beides den Begriff „Klassifizierung“.
b) Beispiele
Medizinproduktehersteller müssen ständig klassifizieren:
- Medizinprodukte müssen bei der Zulassung Klassen (Typen) zugewiesen bekommen, wie sie das Universal Medical Device Nomenclature System UMDS, die European Medical Device Nomenclature EMDN oder die Global Medical Devices Nomenclature GMDN vorgeben.
- Die Medizinprodukteverordnung 2017/745 (Medical Device Regulation MDR) und die EU-Verordnung 2017/746 über In-vitro-Diagnostika IVDR verlangen, dass Medizinprodukte den Klassen I, IIa, IIb und III bzw. A, B, C und D zugeordnet werden, um die passenden Konformitätsbewertungsverfahren auszuwählen.
- Im Risikomanagement teilen Hersteller die Wahrscheinlichkeiten und den Schweregrad von Schäden in Klassen ein, um Risiken zu quantifizieren.
- Bei der Datenübertragung sind semantische Standards notwendig wie die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ICD-10, der Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS und die Anatomisch-Therapeutisch-Chemische Klassifikation (ATC-Klassifikation), um Interoperabilität zu erreichen. Diese Standards sind hierarchische Klassifikationssysteme, d. h. Taxonomien.
2. Wie sich die Güte der Klassifizierung auswirkt
a) Wie Ihnen schlechte Klassifizierung schadet
Bei der Klassifizierung können zwei Dinge schiefgehen:
- Man bildet nicht die richtigen Klassen (Klassifizierung im engeren Sinn).
- Man ordnet Konzepte den falschen Klassen zu (Klassierung).
Beide Fehler können Herstellern sehr schaden, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Fehler | Konsequenz |
Klassifizierung, insbes. nach Anhang VIII der MDR. Die MDR, die MDCG (v. a. 2019-11 und 2021-24) legen bei Software unklare und z. T. widersprüchliche Klassifizierungsregeln fest. Ähnliche Probleme gibt es beim Dokument der britischen MHRA. Die Regeln sind ähnlich zu MDCG 2019-11. | Juristische Konflikte. Es gibt Diskussionen bis hin zu juristischen Auseinandersetzungen zwischen Herstellern und Behörden bzw. Benannten Stellen. |
EMDN. Die EMDN ist nicht umfassend bzw. unklar, beispielsweise bei nicht-aktivem Zubehör für aktive Produkte. | Keine Zulassung. Hersteller können ihre Produkte keiner Klasse zuweisen. Die Zulassung scheitert. |
Schweregrade von Schäden im Risikomanagement. Hersteller legen die Regeln für die Einteilung von Schweregraden beim Risikomanagement nicht präzise fest. Beispielsweise definieren sie einen schweren Schaden als „ernste Gesundheitsbeeinträchtigung“. | Verzögerte Einreichung und Zulassung. Die Erstellung der Risikoanalyse dauert unverhältnismäßig lange, weil keine Einigkeit darüber besteht, wann ein Schaden als „ernste Gesundheitsbeeinträchtigung“ gilt. Zudem stellt die Benannte Stelle die Einteilung konkreter Risiken infrage. Die Folge ist eine verzögerte Zulassung. |
Struktur der technischen Dokumentation. Der Hersteller reicht die Technische Dokumentation elektronisch ein. Die Verzeichnisstruktur (eine hierarchische Klassifizierung) lässt nicht erkennen, ob ein Usability-Testbericht im Verzeichnis „Usability“ oder im Verzeichnis „Verifizierungen und Validierungen“ zu suchen ist. | Nicht-Konformität. Das Team des Herstellers weiß selbst nicht, in welchen Verzeichnissen Daten abzulegen sind. Das führt nicht nur zu Diskussionen, sondern zu fehlenden und/oder redundant eingereichten Dokumenten, die teilweise sogar in unterschiedlichen Versionen in unterschiedlichen Verzeichnissen liegen. Die Benannte Stelle findet die Dokumente nicht und schreibt eine Abweichung, weil bereits die erste Anforderung des Anhangs II der MDR/IVDR (in „klarer, organisierter, leicht durchsuchbarer und eindeutiger Form“) nicht erfüllt ist. |
Struktur des Unternehmens. Die Aufbau- und Ablauforganisation weist verschiedenen Rollen und Unternehmensbereichen Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse zu, die nicht eindeutig oder für jeden verständlich sind. | Nicht-Konformität, Verlust von Kunden. Abteilungen streiten darüber, wer verantwortlich ist, etwas zu tun und dafür geradezustehen hat. Den Kunden ist unklar, an wen sie sich wenden können. Die Organisation erfüllt ihre Anforderungen nur unzureichend, weshalb sich Kunden abwenden. |
b) Warum Ihnen gute Klassifizierung nützt
Wenn Sie Klassen bzw. Kategorien präzise definieren, zeigen Sie damit, dass Sie die jeweilige Domäne wirklich durchdrungen haben. Sie schaffen Klarheit. Und Klarheit schafft Effektivität und Effizienz.
Mit Klarheit lassen sich häufige Probleme vermeiden:
- Unnötige Diskussionen und Streitereien
- Missverständnisse
- Unzureichende Abstimmung, z. B. durch unterschiedliche Prioritäten
Die Einteilung von Konzepten in Klassen entspricht einer Modellbildung. Diese Modelle sind vereinfachte Abbildungen der Welt, anhand derer man Dinge verstehen kann. Beispielsweise helfen Modelle, die wirklichen Problemursachen zu erkennen und zu beseitigen.
Modelle helfen auch, Wissen zu formalisieren.
3. Wie Sie mit diesen 8 Tipps gute Klassifizierung erreichen
Tipp 1: Domäne vollständig abbilden
Stellen Sie sicher, dass Sie durch ihre Klassen die Domäne vollständig abbilden.
Beispiele
- Risikomanagement
Eine Schweregradachse, die in der größten Schadensklasse den Tod eines Patienten vorsieht, ist unvollständig, wenn durch das Produkt mehr als ein Patient zu Tode kommen kann. - Organisationsstruktur
Das Organigramm der Organisationsstruktur umfasst alle Rollen (das sind Klassen mit gleichen Tätigkeiten).
Tipp 2: Richtige Auflösung wählen
Die Klassifizierung muss wie jede Modellbildung für den jeweiligen Zweck geeignet sein.
Beispiele
- Risikomanagement
- Für den Hersteller eines Heftpflasters ist es wichtig, verschiedene kleine Schäden zu unterscheiden, um über die Akzeptanz von Risiken zu entscheiden. War es nur ein Kratzer? Konnte man bereits eine Hautirritation erkennen? War gar eine medizinische Intervention notwendig?
- Für den Hersteller eines Herzkatheters dürften solche Unterscheidungen unerheblich sein. Er wird eher danach differenzieren, ob es durch einen Fehler zu einer Verlängerung der OP kam, ob eine lebensbedrohliche Situation entstand, ob der Patient irreversibel geschädigt wurde oder ob er gar verstarb.
- Krankheiten
- Bei der Verteilung von Fördermitteln für das Gesundheitswesen mag es ausreichen, Krankheiten in wenige Klassen zu unterteilen wie „Erkrankungen des Herzkreislaufsystems“ und „Bösartige Neubildungen“.
- Für den Onkologen ist hingegen die Klasse „Bösartige Neubildungen“ wenig hilfreich, weil alle seine Patienten in diese Klasse fallen. Um über die richtige Therapie entscheiden zu können, benötigt er eine viel differenziertere Klassenbildung.
Tipp 3: Auf Integrität der Klassifizierung achten
Bei der Klassifizierung sollte die inhärente Logik beibehalten werden, z. B. die Dimension und die Systematik der Aufteilung.
(Gegen-)Beispiele
- Risikomanagement: Dimension
Eine Schweregradklasse kann definiert sein als „Tod“, aber nicht als „Möglichkeit des Todes“. Die Möglichkeit impliziert eine Wahrscheinlichkeit, und das ist eine andere Dimension. - Risikomanagement: Skala
Hersteller definieren die Wahrscheinlichkeitsklassen oft auf einem logarithmischen Maßstab. Den sollten sie auch beibehalten und nicht in eine lineare Skala wechseln oder unterschiedlich viele Größenordnungen zu einer Klasse zusammenfassen.
Tipp 4: Überschneidungen von Klassen vermeiden
Um eine eindeutige Zuordnung von Konzepten zu Klassen zu erlauben, müssen die Klassifizierungsregeln eine eindeutige und reproduzierbare Zuordnung sicherstellen. Das ist allerdings nicht banal, da die Welt sich nicht immer als Klassen oder hierarchische Klassen, d.h. als Baum, abbilden lässt.
Beispiele
- Medizinprodukte-Typen
Zählt ein implantierbarer Defibrillator zur Klasse der Defibrillatoren oder zählt er zur Klasse der aktiven implantierbaren Medizinprodukte? Eine solche Entscheidung lässt sich nicht ausschließlich anhand der Klassennamen treffen. Hier bedarf es weiterer Klassifizierungsregeln. - Krankheiten
Der ICD-10-Katalog unterscheidet u. a. die Klassen „Neubildungen“ und „Erkrankungen des Verdauungstrakts“. Doch in welche Klasse fällt ein Darmkrebs? Hierzu bedarf es zusätzlicher Regeln, um Eindeutigkeit zu gewährleisten.
Tipp 5: Intensionale statt extensionale Klassenbildung wählen
Es gibt verschiedene Ansätze, um festzulegen, in welche Klasse bestimmte Konzepte eingeteilt werden müssen. Man unterscheidet:
- Intensionale Klassenbildung
Man definiert die Einteilung anhand von Merkmalen bzw. Regeln. - Extensionale Klassenbildung
Man „definiert“ die Einteilung anhand von Beispielen bzw. durch Auflistung.
Beispiele
- Risikoklassen gemäß MDR und FDA
Anhang VIII der MDR legt Regeln zur Klassifizierung von Medizinprodukten fest (intensionale Klassenbildung). Hingegen listet die FDA für jede Klasse die zugehörigen Produkttypen auf, die Product Codes. - Organisation
Die Organisationsstruktur ist in einem Organigramm festgehalten, das zeigt, aus welchen Abteilungen die einzelnen Bereiche bestehen (extensional). Oder es gibt eine Regel, die diese Zuordnung erlaubt.
Die intensionale Klassenbildung hat den Vorteil, dass sie bei neuen Elementen nicht angepasst werden muss, d. h. ergänzt, wie das bei extenisonalen Klassenbildungen der Fall ist.
Allerdings hat eine intensionale Klassenbildung den Nachteil, dass es zu Einteilungen kommt, weil Regeln fehlen oder für das neue Element nicht passend sind.
Tipp 6: Präzise und unstrittige Klassifikationsmerkmale bestimmen
Die Regeln und damit Klassifikationsmerkmale müssen eindeutig und unstrittig sein. Daher empfehlen sich Kombinationen von binären und unstrittig entscheidbaren Kriterien.
Beispiele
- Risikomanagement: Negativ-Beispiel
Wenn Hersteller Schweregradklassen mit Adjektiven wie „schwerwiegend“, „ernst“ oder „katastrophal“ definieren, entstehen unnötige Diskussionen. - Risikomanagement: Positiv-Beispiel
Hilfreicher ist es, eine Schweregradklasse zu definieren, etwa „lebensbedrohlicher Schaden“ (das ist in der Intensivmedizin genau definiert), „ärztliche Intervention notwendig“ (ist immer der Fall, wenn andernfalls die Heilung länger dauert) oder „irreversible Schädigung mit mindestens 20 % Behinderung” (die Rentenversicherung definiert die Behinderungsgrade bis ins Detail).
Tipp 7: Auf Verständlichkeit achten
Die Klassifikationsregeln müssen von den Personen verstanden werden, die für die Klassifizierung (genauer gesagt Klassierung) verantwortlich sind. Es verbieten sich daher unklare Begriffe und Beispiele.
Tipp 8: Auf Handhabbarkeit achten
Schließlich muss die „Gebrauchstauglichkeit“ der Klassifizierungsregeln gegeben sein. Dies bedingt bei hierarchischen Klassifikationssystemen (Taxonomien) beispielsweise:
- Der Baum darf nicht zu breit sein, weil es sonst schwer wird, die richtige Klasse zu finden. Eine gute Faustregel sind 7 +/- 2 Elemente pro Ebene.
- Der Baum darf nicht zu tief sein, weil sonst zu viele Entscheidungen notwendig sind, um das Element richtig zu klassifizieren (klassieren). Die Tiefe korreliert zumindest bei ausgewogenen Bäumen (z. B. AVL-Bäumen) abhängig von der Anzahl der Elemente mit der Breite.
- Die Granularität darf nicht zu hoch sein, weil sonst die Einteilung schwieriger wird. Die Granularität hängt vom Zweck der Klassifikation ab (s. Tipp 2)
- Die Klassennamen müssen eine schnelle erste Zuordnung erlauben. Details regeln dann die Klassifizierungsregeln.
4. Beispiel einer guten Verzeichnisstruktur
Kapitelstrukturen sind ein Beispiel für hierarchische Gliederungen. Eine gute Strukturierung hilft Leser:innen und zeugt von einem stringenten Gedankengang des Autors bzw. der Autorin. Das folgende Video erklärt, wie man zu einer guten Kapitelstruktur gelangt und weshalb es wichtig ist, mit Formatvorlagen zu arbeiten.
5. Fazit
Menschen sagen durch die Art, wie sie die Welt abbilden, d. h. wie sie diese in Kategorien und Klassen unterteilen, viel über ihr Denken aus. Bereits die Verzeichnisstruktur auf dem Laufwerk oder die Kapitelstruktur eines Dokuments verrät viel über deren Eigner:in bzw. Autor:in.
Eine präzise Klassifizierung schafft präzise Modelle. Diese wiederum schaffen jene Klarheit, ohne die anspruchsvolle Tätigkeiten wie Produktentwicklung oder Lenkung einer Organisation nicht gut gelingen werden.
Eine präzise Klassifizierung ist somit die Zeit wert, die zu ihrer Erstellung erforderlich ist.
Das Johner Institut hilft Medizinprodukteherstellern und deren Dienstleistern dabei, Klarheit zu erlangen: bei der Qualifizierung und Klassifizierung der Produkte über den Aufbau der technischen Dokumentation bis hin zur erfolgreichen Zulassung und Post-Market Surveillance.
Änderungshistorie:
- 2022-09-16: Klassifizierungsdokument der MHRA verlinkt.