Das Thema Nachhaltigkeit ist allgegenwärtig. In der Medizintechnik scheint sich der Trend aber langsamer durchzusetzen als in anderen Branchen. Kein Wunder, immerhin müssen Medizinprodukte eine Vielzahl an Anforderungen erfüllen, bevor sie auf den Markt dürfen. Doch stehen diese Anforderungen wirklich der Nachhaltigkeit im Wege?
Dieser Beitrag zeigt auf, was es für Hersteller von Medizinprodukten zu beachten gibt und welche Möglichkeiten sie haben, um ihre Produkte nachhaltiger zu machen.
Autorin: Dr. Anja Segschneider
1. Nachhaltigkeit: Was bedeutet das?
a) Der Begriff “Nachhaltigkeit” und sein Ursprung
Nachhaltigkeit verbinden viele allein mit Umweltschutz. In der Tat ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Planeten ein wichtiger Teil des Konzepts. Doch Nachhaltigkeit geht weit über ökologische Erwägungen hinaus.
Die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen definierte nachhaltige Entwicklung 1987 als
„development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“.
Quelle: Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future
Dahinter steht also ein langfristiges Ziel, das letztlich Leben, Gesundheit und Wohlstand aller verbessern soll. Nach dem Drei-Säulen-Modell basiert Nachhaltigkeit auf Ökologie, Sozialem und Ökonomie.
b) SDGs der Vereinten Nationen
Nachdem Nachhaltigkeit in den Augen der Weltöffentlichkeit jahrzehntelang ein eher vages Konzept war, wurden die Ziele im Jahr 2015 konkretisiert. Als Teil der 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung formulierten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (UN) 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals oder SDGs). Auch die EU mit ihrem Green Deal und die deutsche Bundesregierung mit der Nachhaltigkeitsstrategie verpflichteten sich, diese Ziele bis 2030 voranzubringen.
Die UN versteht Nachhaltigkeit als ganzheitliches Konzept. So finden sich unter den Sustainable Development Goals auch viele Ziele, die soziale Themen wie Inklusion, Gleichstellung, Frieden, Wohlstand und Gesundheit betreffen. Alle Aspekte sind letztlich miteinander verbunden: Gesundheit wird beispielsweise nicht nur durch die medizinische Versorgung beeinflusst, sondern auch durch Umweltbedingungen, Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Gleichstellung.
Die 17 SDGs lauten:
c) Warum Nachhaltigkeit boomt
Nachhaltigkeit ist seit einigen Jahren in aller Munde. Die Endlichkeit unserer Ressourcen und unseres Lebensstils werden immer deutlicher. Nachhaltige Produkte und nachhaltiges Wirtschaften bieten die beste Vorsorge gegen den Zusammenbruch von Systemen, die in wenigen Jahren nicht mehr funktionieren, da ihnen die Grundlage fehlt.
Nachhaltigkeit liegt jedoch auch über den rein rationalen Erwägungen hinaus im Trend: Unternehmen schmücken sich mit diesem Label aus Imagegründen. Zahlreiche Förderungen und Investitionen sind heutzutage nicht mehr ohne ein Nachhaltigkeitskonzept zu erhalten. Nachhaltigkeit fördert außerdem Innovation: Auf der Suche nach umweltfreundlichen Materialien stellt sich oft heraus, dass diese z. B. auch besser verträglich sind und sich dadurch für die Medizin eignen.
Ein Interview mit Rainer Schultheis, der in seinem Medtech-Unternehmen [Saphenus](saphenus.com) viele Wege gefunden hat, Nachhaltigkeit umzusetzen.
Diese und weitere Podcast-Episoden finden Sie auch hier.
2. Was macht Nachhaltigkeit bei Medizintechnik aus?
In der Medizintechnikbranche ist der Nachhaltigkeitstrend noch nicht im großen Stil angekommen. Dabei könnte gerade diese Branche, die verschiedenste Belange von Menschen berücksichtigt, davon profitieren.
Was Nachhaltigkeit in der Medizintechnik ausmacht, fasst der Branchenverband MedTech Europe folgendermaßen zusammen:
Good health and well-being, responsible consumption and production, climate action and partnerships are the goals which we see as particularly relevant for our trade association
Im Detail schlägt sich Nachhaltigkeit bei Medizinprodukten auf mehreren Ebenen nieder.
a) Lieferketten
Bei der Nachhaltigkeit von Lieferketten können sich Unternehmen an den sogenannten ESG-Anforderungen
- Environment
- Social
- Governance
orientieren. Unternehmen müssen also sowohl Umweltschutz-, Menschenrechts-, und Gesundheitsstandards beachten, und zwar entlang der gesamten Liefer- und Wertschöpfungskette.
Rechtliche Grundlagen für Nachhaltigkeit bei Lieferketten
Deutschland
Deutschland hat 2021 ein Lieferkettengesetz beschlossen. Dieses sieht eine Verantwortung von Unternehmen für die gesamte Lieferkette vor, allerdings abgestuft nach Einflussmöglichkeit. Das Lieferkettengesetz gilt ab 2023 für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ab 2024 für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Nach 2024 soll der Anwendungsbereich erneut überprüft werden.
Unternehmen sind nach dem Lieferkettengesetz für die gesamte Lieferkette – vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt – verantwortlich. Allerdings sind die Pflichten nach Zugriffsmöglichkeit auf den jeweiligen Bereich abgestuft. Die Stufen sind:
- Eigener Geschäftsbereich
- Unmittelbarer Zulieferer
- Mittelbarer Zulieferer
Weiter unterscheidet das Gesetz nach
- Art und Umfang der Geschäftstätigkeit,
- dem Einflussvermögen des Unternehmens auf den Verursacher der Verletzung,
- der typischerweise zu erwartenden Schwere der Verletzung sowie
- der Art des Verursachungsbeitrags des Unternehmens.
Unternehmen müssen sowohl im eigenen Geschäftsbereich als auch beim unmittelbaren Zulieferer folgende Maßnahmen umsetzen:
- Grundsatzerklärung zur Achtung der Menschenrechte verabschieden
- Risikoanalyse: Verfahren zur Ermittlung nachteiliger Auswirkungen auf die Menschenrechte durchführen
- Risikomanagement (inklusive Präventions- und Abhilfemaßnahmen) zur Abwendung potenziell negativer Auswirkungen auf die Menschenrechte
- Beschwerdemechanismus einrichten
- In der Öffentlichkeit transparent berichten
Bei mittelbaren Zulieferern gelten die Sorgfaltspflichten dagegen nur anlassbezogen sowie nur, wenn das Unternehmen Kenntnis von einem möglichen Verstoß erlangt. Dann muss das Unternehmen
- eine Risikoanalyse durchführen,
- ein Konzept zur Minimierung und Vermeidung der Verstöße umsetzen sowie
- angemessene Präventionsmaßnahmen gegenüber dem Verursacher durchsetzen.
Europa
Die EU hat einen Entwurf für eine europäische Lieferkettenrichtlinie vorgelegt. Diese ist jedoch noch nicht beschlossen und wurde darüber hinaus gegenüber dem ursprünglichen Entwurf stark abgeschwächt.
Sobald die Richtlinie erlassen ist, müssten die deutschen Regelungen gegebenenfalls angepasst werden. Allerdings nur, wenn sie die zu schützenden Rechtsgüter weniger stark schützen als die europäischen Regelungen. Danach sieht es derzeit nicht aus.
b) Produkte
Medizinprodukte selbst können auf unterschiedliche Weise nachhaltig(er) sein. So können sie sich etwa durch niedrigen Energieverbrauch, nachhaltige Produktion mit geringeren Emissionen, nachhaltige Materialien, geringeren Materialeinsatz, weniger Verpackung und längere Lebensdauer auszeichnen.
Der Aspekt Nachhaltigkeit sollte bereits beim Produktdesign bedacht werden, damit möglichst wenige und möglichst verträgliche Materialien eingesetzt sowie die Recyclingoptionen geschaffen werden können.
Kriterien für nachhaltige Materialien sind zum Beispiel:
- Ressourcenschonenede und emissionsarme Produktion
- Erneuerbarkeit
- Arbeitsbedingungen bei Abbau, Verarbeitung, Transport etc.
- Transportwege
- Abbaubarkeit oder Wiederverwendbarkeit
Nachhaltige Materialien für Medizinprodukte
Die Wahl der Materialien hat einen großen Einfluss auf die Nachhaltigkeit eines Medizinprodukts. In vielen Fällen sorgen nachhaltigere Materialien sogar für bessere Verträglichkeit beim Patienten, weil beispielsweise weniger schädliche Stoffe bei der Herstellung eingesetzt werden.
Beispiel für eine nachhaltige Materialalternativen
Alternativen zu herkömmlichen Plastik sind z. B. die Biopolymere Polyhydroxyalkanoate (PHA), die keine allergischen Reaktionen auslösen und im Körper abbaubar sind, sowie Polylactid (PLA), ein Plastik, das aus Maisstärke gewonnen wird und ebenfalls leichter abbaubar ist als Plastik aus Erdöl.
Ersatz von Stoffen ist nicht immer möglich
Der Einsatz nachhaltiger Materialien ist in der Medizintechnik jedoch nicht immer möglich. Nachhaltige Alternativen müssen dieselben Kriterien wie das Ursprungsprodukt erfüllen. Außerdem müssen sie zunächst u. a. auf Biokompatibilität getestet werden, was oft Tierversuche beinhaltet.
Nachhaltige Materialien müssen u. a. diese Kriterien erfüllen:
- Stabil gegenüber mechanischen und thermischen Belastungen
- Leicht zu reinigen, zu desinfizieren und zu sterilisieren
- Biokompatibel und
- reproduzierbar zu fertigen
Je nach Verwendungsart ist diese Aufzählung um weitere Eigenschaften zu ergänzen.
Nachhaltige Materialalternativen gibt es – wenn man danach sucht
Sind nachhaltige Materialien nicht sicher und leistungsfähig, sind sie keine echte Alternative. Dennoch: In vielen Fällen lassen sich für gängige und problematische Materialien nachhaltigere Varianten finden.
Dies können Produkte mit einer per se besseren Öko- und Sozialbilanz sein, weil sie beispielsweise aus heimischen Pflanzen produziert werden; oder Produkte, die nachhaltig abgebaut und transportiert wurden, oder recycelte Materialien.
Neben regulatorischen Erwägungen scheitert der Einsatz solcher Materialien jedoch häufig an einer Imagefrage: “Neu”, massiv und altbewährt halten viele für hochwertiger. Alternative Materialien müssen außerdem erst einmal recherchiert und u. U. auf Sicherheit und Leistung getestet werden, was Aufwand bedeutet.
Verpackungen
Die EU-Richtlinie 94/62/EG in Verbindung mit der Richtlinie 2018/852 schreibt ab 2025 eine erhebliche Reduzierung von Verpackungsmüll vor. Seit 2021 ist eine EU-weite Plastikabgabe für nicht-recycelte Materialien vorgesehen.
Medizinproduktehersteller stellt dies vor verschiedene Herausforderungen. Viele Produkte wie Nadeln und Katheter müssen steril verpackt werden, was mit Abfall einhergeht. Die Möglichkeiten, Material zu ersetzen oder zu reduzieren, sind aufgrund der Sterilitätserfordernisse in vielen Fällen eingeschränkt.
Andere Hersteller können auf wiederverwendbare Materialien oder möglichst sortenreine Verpackungen umsteigen, die leichter zu recyceln sind. Allerdings bedeutet eine neue und eventuell mit weniger Müll verbundene Verpackung meist eine Designänderung, die geprüft werden und durch eine Benannte Stelle neu zertifiziert werden muss. Benannte Stellen sind jedoch bereits durch die MDR-Umstellung stark ausgelastet. Daher plädierte der Branchenverband BVMed in seinem Positionspapier zur Bundestagswahl dafür, Medizinproduktehersteller von der Plastikabgabe zu befreien.
Zumindest im Rahmen der EU-Richtlinie 94/62/EG über die Reduzierung von Verpackungsmüll gibt es eine Regelung, die eine Sonderregelung für Medizintechnik erlauben würde. Diese findet sich im Art. 20 der RL 94/62/EG, der in die folgende Form geändert wurde:
“Der Kommission wird die Befugnis übertragen, gemäß Artikel 21a delegierte Rechtsakte zu erlassen, um diese Richtlinie zu ergänzen, wenn dies notwendig ist, um Probleme bei der Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere in Bezug auf inerte Verpackungsmaterialien, die in der Union in sehr geringen Mengen (d. h. mit einem Anteil von rund 0,1 Gewichtsprozent) in den Verkehr gebracht werden, Primärverpackungen für medizinische Geräte und pharmazeutische Erzeugnisse sowie Klein- und Luxusverpackungen zu beseitigen.”
Lebensdauer
Auch die Lebensdauer hat einen großen Einfluss auf die Nachhaltigkeit von Produkten. Eine längere Lebensdauer und möglichst geringer Serviceaufwand führen zu einer positiveren Ökobilanz, da weniger Produkte produziert werden müssen.
Lesen Sie mehr in unserem Beitrag zur Lebensdauer von Medizinprodukten
c) Nutzung und Entsorgung
In vielen Fällen können für Medizinprodukte dieselben nachhaltigen Nutzungs-, Entsorgungs- und Recyclingkonzepte gefunden werden wie für andere Produkte. Es hängt von der Wahl der Materialien, der Bauweise und der Art des Produkts ab, inwiefern eine nachhaltige Entsorgung oder Wiederverwendung möglich ist.
Lesen Sie mehr zu den Chancen und Anforderungen an das Recycling von Medizinprodukten im Beitrag Recycling und Entsorgung von Medizinprodukten: Wie Sie sich mit Müll einen Marktvorteil verschaffen
Kreislaufwirtschaft
Im Sinne der Nachhaltigkeit müsste eine Kreislaufwirtschaft angestrebt werden. In einer idealen Kreislaufwirtschaft würde es gar keinen Abfall mehr geben. Alle Ressourcen würden stets zurück in den Produktkreislauf fließen.
Bei Medizinprodukten kann dies nicht nur durch Recycling, sondern auch durch Wiederaufbereitung geschehen. Diese ist insbesondere für Märkte wichtig, auf denen man sich neue Medizinprodukte nicht leisten kann. Vorgaben für eine mögliche Aufbereitung von Medizinprodukten macht etwa die ISO 17664.
Mehr Infos gibt es in unserem Beitrag zur ISO 17664 und der Aufbereitung von Medizinprodukten.
Einmalprodukte
Spätestens, wenn es sich jedoch beispielsweise um Einmalprodukte wie Spritzen handelt, die auch noch mit Blut oder anderen Körperflüssigkeiten kontaminiert sind, müssen diese in der Regel unter besonderen Auflagen entsorgt werden.
Allerdings können auch Einmalprodukte unter bestimmten Umständen wiederaufbereitet werden. Die Grundzüge legt Art. 17 MDR fest. Demnach müssen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten regeln, ob sie die Wiederaufbereitung von Einmalprodukten gestatten oder nicht. In Deutschland ist diese Möglichkeit in § 8 Abs. 4 und 5 MPBetreibV-E verankert.
d) Unternehmensorganisation
Auch Unternehmensstrukturen und -abläufe müssen nachhaltig gestaltet werden. Nachhaltigkeit in Unternehmen betrifft:
- Ökonomisch vorausschauendes Wirtschaften (Tragen Investitionen auch in der Zukunft?)
- Wohlbefinden der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Gesundheit, Wohlstand, Bildungsmöglichkeiten, Gleichstellung)
- Ökologischer Fußabdruck des Unternehmens (emissionssparendes Arbeiten etwa durch weniger Geschäftsreisen und Geräte mit niedrigem Energiebedarf, weniger drucken, nachhaltige Produktion etc.)
Eine aktuelle Studie des Digitalverbandes Bitkom hat festgestellt, dass allein durch die Digitalisierung von u. a. Unternehmen gut ein Fünftel der CO2-Emissionen eingespart werden könnte.
Vorgaben zum Thema Nachhaltigkeit
Neben den bereits genannten Vorgaben zum Thema Nachhaltigkeit ergeben sich für Unternehmen weitere Vorgaben, beispielsweise aus dem Vergaberecht (z. B. EU-Vergaberichtlinien (RL 2014/24/EU), Government Procurement Agreement, kurz GPA) oder Transparenzvorgaben (z. B. RL 2014/95/EU).
Ein Richtlinien-Vorschlag der EU zur Nachhaltigkeitsberichterstattung aus 2021 sieht außerdem eine Ausweitung der Berichtspflichten vor. So soll sich nicht nur der Umfang der Pflichten erweitern, sondern diese sollen auch ab 2023 auch für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) gelten.
3. Stehen Sicherheit und Kosten der Nachhaltigkeit entgegen?
Manche Unternehmen würden gern mehr Nachhaltigkeit implementieren, befürchten jedoch, dass hierunter die Sicherheit von Medizinprodukten leidet und sie außerdem auch noch mit hohen Kosten rechnen müssen.
Sicherheit setzt der Nachhaltigkeit Grenzen
Die Aspekte der Nachhaltigkeit variieren von Medizinprodukt zu Medizinprodukt stark. Steht die Sicherheit von Menschen auf dem Spiel, tritt (ökologische) Nachhaltigkeit in den Hintergrund. Dies entspricht auch regulatorischen Vorgaben und letztlich sogar dem Nachhaltigkeitsgedanken selbst: Nachhaltigkeit, wie sie die UN versteht, beinhaltet schließlich nicht bloß ökologische Aspekte, sondern auch Aspekte des Gesundheitsschutzes. Es existieren daher verschiedene Rechtsgüter, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Gibt es keine ökologisch verträgliche Alternative, die genauso sicher und leistungsfähig wie ein anderes Material oder Produkt ist, muss die weniger umweltfreundliche Alternative genutzt werden. Das “Rechtsgut Menschenleben” gewinnt in diesem Fall.
Besonders beim Thema Einmalprodukte ist dies ersichtlich: Stehen Hygieneerwägungen einer Wiederverwendung bzw. Wiederaufbereitung entgegen, muss das Produkt entsorgt werden. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Medizinprodukte und IVD aus Regelungen wie der Richtlinie 2012/19/E (Vermeidung von Elektronikabfall) nach Art. 2 Abs. 4 g) explizit ausgenommen sind.
Aber: Die Gefahr besteht, sich auf der Argumentation “Es geht halt nicht besser” auszuruhen. Meistens gibt es Möglichkeiten, um mit geringerem Schaden für die Umwelt und ohne menschenunwürdige Arbeitsbedingungen dieselbe Sicherheit und Leistung zu erreichen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die beschriebenen Alternativen zu herkömmlichen Plastik.
Hierzu muss auch ausreichend in Forschung und Entwicklung entsprechender Produkte und Systeme investiert werden. Und manchmal ist auch schlicht eine große systemische Umwälzung nötig, etwa hin zu kompatiblen Produktkomponenten oder neuen Entsorgungssystemen. Ist die Bereitschaft da, ist vieles möglich.
Kosten
Viele Unternehmen scheuen die möglichen Kosten, die durch die Umstellung hin zu mehr Nachhaltigkeit entstehen können.
Was Nachhaltigkeit kosten kann
- Die Umstellung auf Nachhaltigkeit erfordert Investitionen: Recherche, Koordination (hier ist auch die Unternehmensrolle Nachhaltigkeitsmanger:in erwägenswert), Anschaffen neuen Equipments und neuer Software.
- Produkt- und Beschaffungskosten steigen.
- Es entstehen höhere Produktionskosten, wenn die Produktion bspw. ins Inland verlegt wird oder Methoden mit niedrigeren Emissionen eingesetzt werden.
Doch Nachhaltigkeit muss nicht nur kosten. Unter Umständen kann sie Unternehmen sogar ein Umsatzplus einbringen:
Wie Nachhaltigkeit Geld einbringen kann
- Investitionen und Förderungen sind oft an Nachhaltigkeitsziele gebunden.
- Unternehmen können durch Recycling und Wiederaufbereitung viel Geld sparen.
- Die Senkung von Energie- und Materialbedarf spart Kosten.
- Nachhaltiges Wirtschaften macht Unternehmen fit für die Zukunft.
- Junge Talente entscheiden sich eher für nachhaltige Unternehmen.
- Nachhaltigkeit ist ein schlagendes Argument im Marketing.
In vielen Fällen sind die Kunden bereit, höhere Preise für nachhaltigere Produkte zu bezahlen. Inwiefern dies auch in der Medizintechnikbranche zutrifft, ist allerdings kaum nachzuvollziehen. Häufig sind die Kunden hier Wirtschaftsunternehmen. Dennoch: Auch Medizinprodukte kommen in den allermeisten Fällen bei Endverbrauchern, den Patientinnen und Patienten, an. Hier wird es vor allem eine Frage guter Kommunikation sein, ob eventuell höhere Preise an diese weitergegeben werden können.
4. Fünf Tipps für Nachhaltigkeits-Neulinge
Für ein Startup ist das Konzept der Nachhaltigkeit im Allgemeinen leichter zu berücksichtigen als für etablierte Unternehmen. Dennoch, auch alteingesessene MedTech-Größen und Mittelständler kommen nicht mehr darum herum, Nachhaltigkeitskonzepte zu erstellen. Für alle Nachhaltigkeits-Neulinge gibt es die folgenden Tipps:
Tipp 1: Nachhaltigkeit in die Unternehmensstrategie aufnehmen
Nachhaltigkeit sollte ein Teil Ihrer Unternehmensstrategie werden und damit alle Aspekte des Unternehmens umfassen. Wie so viele andere Transformationsprozesse funktioniert auch die Umstellung auf Nachhaltigkeit nicht, wenn sie nur halbherzig angegangen wird.
Eine ganzheitliche Herangehensweise hat den Vorteil, dass Prozesse aufeinander abgestimmt werden können. Außerdem legen Investoren Wert auf eine nachhaltige Unternehmensstrategie. Gehen Sie Nachhaltigkeit ganzheitlich und ernsthaft an, dann können Sie dies auch im Marketing werbewirksam einfließen lassen.
Tipp 2: SDG-Schwerpunkte setzen
Die UN hat 17 verschiedene Sustainable Development Goals (SDGs) verabschiedet. Das sind also 17 verschiedene Möglichkeiten, sich Nachhaltigkeit zu nähern. Im Idealfall sollten natürlich auf Dauer alle 17 SDGs berücksichtigt werden. Doch das kann gerade am Anfang überwältigend sein. Daher: Setzen Sie Schwerpunkte. Suchen Sie sich einige SDGs aus, auf die Sie sich konzentrieren. Im Bereich Medizintechnik eigenen sich dazu vor allem die sozial orientierten SDGs wie Gesundheit, Gleichheit, Wohlstand und Bildung. Nach und nach solten dann weitere Aspekte hinzukommen.
Tipp 3: Nachhaltigkeitsmanager:in berufen
Die gesamte Wirtschaft ist gerade in einer Umstellung hin zu mehr Nachhaltigkeit. Vieles ist noch offen. Das bedeutet, dass Sie nicht nur Ihr eigenes Unternehmen und Ihre eigenen Produkte anpassen müssen, sondern auch neueste Forschung und sich wandelnde Rahmenbedingungen im Auge behalten sollten.
Solche Aufgaben gehen seltener im Alltagsstress unter, wenn es eine designierte Rolle dafür im Unternehmen gibt. Nachhaltigkeitsmanager:innen können Transformationsprozesse begleiten, alle nötigen Stakeholder an einen Tisch bringen und dafür sorgen, dass Ihr Unternehmen immer auf dem aktuellen Stand der Möglichkeiten ist. Allerdings sollte eine designierte Rolle für Nachhaltigkeit nicht dazu führen, dass sich die interne Bürokratie erhöht.
Tipp 4: Verwendung nach Lebensende schon beim Design berücksichtigen
Bereits beim Design eines neuen Produktes sollten Sie bedenken, wie Sie dieses nachhaltig gestalten können. Aspekte sind hierbei:
- Welche Materialien verwenden Sie?
- Wo kommen diese her (Lieferketten)?
- Wo und wie wird das Produkt produziert?
- Wie können Sie Sicherheit und Leistung am besten mit Nachhaltigkeit verbinden?
- Was geschieht nach Lebensende mit dem Produkt? Kann es recycelt oder umweltfreundlich entsorgt werden?
Tipp 5: Neue Märkte entdecken
Es gibt Märkte, in denen neue Medizinprodukte entweder zu teuer sind oder die Materialien für eine Produktion fehlen. Gerade in solchen Märkten bergen nachhaltige Medizinprodukte großes Potenzial. Hier können Ihre Medizinprodukte aus beispiesweise recycelten Materialien oder Wiederaufbereitung einen enormen Unterschied machen – und dafür sorgen, dass Menschen, die bisher keinen Zugang zu Medizinprodukten haben, diesen erhalten. Medizinprodukte für genau solche Märkte zu designen, kann am Ende allen helfen: Herstellern, medizinischem Personal und den Patientinnen und Patienten.
5. Fazit
Der Begriff Nachhaltigkeit ist oft mit positiven wie negativen Stereotypen besetzt. Doch gleich, wo man ideologisch steht: Angesichts zunehmender Ressourcenknappheit und immer schärferer Gesetze kommt in Zukunft kaum noch ein Unternehmen um das Thema Nachhaltigkeit herum. Das gilt auch für die MedTech-Branche.
Dabei müssen gerade bei Medizinprodukten die regulatorischen Anforderungen an Sicherheit und Leistung beachtet werden. Wo diese gefährdet sind, müssen ökologische Nachhaltigkeitsaspekte unter Umständen in den Hintergrund treten. Doch die regulatorischen Anforderungen können nicht als Ausrede dienen. Nachhaltigkeit ist auf unterschiedlichste Weise umsetzbar – und kann Ihrem Unternehmen zum echten Innovationstreiber werden.
Wir bedanken uns bei Rainer Schultheis, Wissenschaftsjournalist und Geschäftsführer von Saphenus Medical Technology, für wichtigen Input zu diesem Beitrag. Beachten Sie auch unseren Podcast mit Rainer Schultheis zum Thema Nachhaltigkeit von Medizinprodukten.