Anormaler Gebrauch: Eine von vielen möglichen Fehlhandlungen
Irrtum, Benutzungsfehler, anormaler Gebrauch, Aufmerksamkeitsfehler, vernünftigerweise vorhersehbarer Erinnerungsfehler, vorhersehbarer Missbrauch. Die Liste möglicher (Fehl-) Handlungen ist lang, die die Normen betrachtet haben möchten.
Doch Vorsicht: Die Normen zur Gebrauchstauglichkeit (IEC 62366:2007 und IEC 62366-1:2015) und die Norm zum Risikomanagement (ISO 14971) verwenden unterschiedliche Begriffe.
Dieser Artikel bringt Licht ins Dunkel.
Begriffsdefinitionen in den verschiedenen Normen
DIN EN IEC 62366:2007
Die DIN EN 62366-2007 definiert den anormalen Gebrauch wie folgt:
Die IEC 62366:2007 definiert eine umfangreiche Taxonomie an Begriffen (s. Abb. 1).
Die Norm versteht unter einem anormalen Gebrauch jeden beabsichtigen falschen Gebrauch, der vernünftigerweise vorhersagbar ist. Ein Beispiel wären Benutzer, die sich unter einem gemeinsamen Benutzernamen einloggen, um die Zeit fürs Aus- und Einloggen zu sparen. Und dies, obwohl sie wissen, dass das nicht erlaubt ist.
Die Begriffe anormaler Gebrauch und anomaler Gebrauch (ohne „r) sind synonym zu verstehen.
Auch der Irrtum ist ein beabsichtigter Gebrauch, bei welchem dem Benutzer ein Benutzungsfehler unterläuft. Im Gegensatz zum anormalen Gebrauch glaubt der Benutzer aber, das Richtige zu tun. Beispielsweise nahm ein Benutzer irrtümlich an, dass er bei der Herz-Lungen-Maschine mit dem roten Schalter das Blut wärmen und mit dem blauen kühlen könne. Der rote Schalter stand aber für arterielles Blut, der blaue für venöses.
Der Unterschied von von beabsichtigtem und nicht-beabsichtigtem Gebrauch bezieht sich somit auf die Absicht, mit der man das Gerät benutzt. Es geht nicht um die Absicht bezüglich des damit erzielten Ergebnisses. Man kann in guter Absicht (z.B. bei Irrtum) ein schlechter Ergebnis verursachen.
Der normale Gebrauch schließt Benutzungsfehler explizit mit ein.
Der nicht-vorhersagbare Gebrauch zählt ebenso wenig zum Anwendungsbereich der IEC 62366:2007 wie der anormale Gebrauch.
IEC 62366-1:2015
Die IEC 62366-1:2015 hat die Begriffstaxonomie deutlich vereinfacht (s. Abb. 2).
Die Norm verzichtet auf die Unterscheidung von vorhersagbarem und nicht vorhersagbarem Gebrauch. Auch differenziert sie nicht mehr zwischen beabsichtigtem und nicht-beabsichtigtem Gebrauch.
Sie unterscheidet nur noch den normalen und anormalen Gebrauch und innerhalb des normalen Gebrauchs den korrekten und nicht korrekten Gebrauch. Letzteren nennt sie Benutzungsfehler.
Die IEC 62366-1 wartet mit einer leicht geänderten Begriffsdefinition auf:
‚bewusste, vorsätzliche Handlung oder vorsätzliche Unterlassung einer Handlung, die dem BESTIMMUNGSGEMÄSSEN GEBRAUCH entgegensteht oder ihn verletzt und außerdem außerhalb jeglicher weiterer vernünftiger Mittel der USER INTERFACE-bezogenen RISIKOBEHERRSCHUNG durch den Hersteller liegt‘
Auch bei der neuen Version schließt der normale Gebrauch Benutzungsfehler explizit mit ein. Das ist für manche etwas kontraintuitiv.
Vergleich von IEC 62366:2007 und IEC 62366-1:2015
Wenn Sie nun vor der Aufgabe stehen, die Begrifflichkeiten der alten auf die neue Version der Norm „mappen“ zu müssen, mag Ihnen Abbildung 3 nützlich sein:
Abb. 3.: Vergleich der Taxonomien von IEC 62366:2007 und IEC 62366-1:2015
Die Änderungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Am Begriff des „normalen Gebrauchs“ hat sich nichts geändert.
- Der anormale Gebrauch unterscheidet nicht mehr, ob dieser vorhersagbar oder nicht. Er ist in beiden Fällen außerhalb des „Scopes“ der Norm.
- Eine Unterscheidung von Benutzungsfehlern fällt weg. Es ist auch unerheblich, ob der Benutzer Fehler in guter Absicht oder unabsichtlich begeht.
- Der bestimmungsgemäße Gebrauch nennt sich jetzt korrekter Gebrauch.
ISO 14971: Ziel und Geltungsanspruch beinhalten den anormalen Gebrauch
Die ISO 14971 fordert in Kapitel 4.2 (das ist das Kapitel mit der Zweckbestimmung), den vorhersehbaren Missbrauch zu dokumentieren. In anderen Worten: Die ISO 14971 möchte alle „vernünftigerweise vorhersehbaren“ Risiken betrachtet wissen. Sie unterscheidet wie die „alte“ IEC 62366 zwischen (vernünftigerweise) vorhersehbar und nicht-vorhersehbar.
Abb. 4.: Anwendungsbereich der ISO 14971
Vergleich der IEC 62366-1:2015 und der ISO 14971
Die ISO 14971 betrachtet die guten und bösen Anwender, also auch Anwender, welche das Medizinprodukt missbräuchlich nutzen. So ein Missbrauch könnte darin bestehen, dass die Anwender es für einen nicht-vorhergesehen Zweck benutzen, Sicherheitshinweise bewusst ignorieren oder es ohne entsprechende Ausbildung einsetzen, obwohl dies explizit gefordert ist.
Die IEC 62366 geht hingegen vom „guten Anwender“ aus. Sie betrachtet nur Fehler, die dadurch entstehen, dass der Benutzer etwas vergisst, unaufmerksam ist oder dadurch dass ihm ein Irrtum unterläuft.
Bei einem Irrtum handelt der Nutzer in voller (und guter) Absicht, gefährdet damit aber einen Patienten oder Anwender. Dies könnte beispielsweise passieren, weil er das Produkt falsch verstanden hat. Die Norm spricht von einem „falschen mentalen Modell“.
ISO 14971: Anormaler Gebrauch und vorhersehbarer Missbrauch
Wie ist nun der „vorhersehbare Missbrauch“ in die Taxonomie der „alten“ IEC 62366 einzusortieren? Der vorhersehbare Missbrauch ist eine absichtliche und vorhersehbare Fehlhandlung. Also genau das, was die IEC 62366 als anormalen Gebrauch bezeichnet und deshalb nicht behandelt.
Behandelt wird der anormale Gebrauch im Rahmen der ISO 14971, die ja alle Risiken anspricht. Zu den Risiken, die Sie gemäß dieser Norm zu betrachten haben, zählen die Risiken durch
- anormalen Gebrauch (= vorhersehbarer Missbrauch)
- Benutzungsfehler (Irrtum, Erinnerungsfehler, Aufmerksamkeitsfehler)
- das fehlerhafte Medizinprodukt selbst (also ohne Korrelation zur Gebrauchstauglichkeit)
Ich beobachte, dass die Auditoren die Benutzungsfehler (Punkt 2) zunehmend in den Fokus rücken und damit die IEC 62366.
Weitere Unterstützung
Haben Sie Fragen zum Risikomanagement, zur ISO 14971 oder zur IEC 62366? Sind sie unsicher, ob Sie Risiken durch anormalen Gebrauch ausreichend analysiert haben und wirklich beherrschen? Dann nutzen Sie gerne unsere kostenlose Auditsprechstunde.
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