Die IEC 60601-1-6 ist eine Ergänzungsnorm (Collateral Standard) zur IEC 60601-1. Die IEC 60601-1-6 legt die Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit (Usability) von medizinischen elektrischen Geräten fest.
Auch die IEC 62366 stellt Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten. Bedarf es wirklich zweier Normen? Ist die IEC 60601-1-6 obsolet geworden? Antworten finden Sie in diesem Beitrag.
IEC 60601-1-6 und die IEC 60601-Familie
Bereits die Nummer macht klar, dass die Norm zur Familie der IEC 60601-1-Normen zählt.
Die Grundnorm, die IEC 60601-1, wurde in einer ersten Version bereits 1977 veröffentlich, vor über 40 Jahren(!). Im Lauf der Zeit wurde diese Grundnorm durch Kollateral- und Partikularnormen ergänzt.
Zu den Kollateralnormen (Ergänzungsnormen) zähl(t)en beispielsweise die IEC 60601-1-4 (PEMS, Risikomanagement), die IEC 60601-1-6 (Gebrauchstauglichkeit) und die IEC 60601-1-8 (Alarmsysteme).
Der Fokus dieser Normenfamilie waren und sind die medizinischen elektrischen Geräte (ME-Geräte), also Medizinprodukte, die eine Spannungsversorgung und entweder ein Anwendungsteil oder eine Energieübertragung vom bzw. zum Patienten haben.
Im Lauf der Jahre entwickelte man die Kollateralstandards weiter. Es entstanden daraus tw. eigene Normen wie die IEC 62304 und die IEC 62366. Während die IEC 60601-1-4 zurückgezogen wurde, existiert die IEC 60601-1-6 bis heute.
Historie der IEC 60601-1-6
Phase 1: Die goldenen Zeiten
Die erste Version der IEC 60601-1-6 erschien 2004. Sie stellte umfangreiche Anforderungen an den Prozess, mit dem die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten sichergestellt werden soll.
Lesen Sie hier mehr zum Thema IEC 60601-1
Phase 2: Konkurrenz entsteht
Im Jahr 2006 wurde die erste Version der IEC 62366 publiziert. Sie entwickelte zum einen diese Anforderungen an den „gebrauchstauglichkeitsorientierten Entwicklungsprozess“ weiter. Zum anderen erweiterte Sie den Anwendungsbereich von ME-Geräten auf alle Medizinprodukte.
Phase 3: Der langsame Tod
Mit der IEC 62366 als „Konkurrenz“ verlor die IEC 60601-1-6 zunehmend ihre Daseinsberechtigung. Im Gegensatz zur IEC 60601-1-4 wurde sie zwar noch nicht zurückgezogen. Allerdings wurde sie weitgehend „entkernt“ und die Inhalte bereits in der Ausgabe 2010 durch normative Verweise v.a. auf die IEC 62366 ersetzt. Entsprechend reduzierte sich der Seitenumfang von etwa 80 Seiten auf unter 10.
Das geschrumpfte Inhaltsverzeichnis spiegelt dies wider:
Der IEC 60601-1-6:2010 folgte noch ein erstes Amendmend im Jahr 2013, und ein zweites ist für 2017 geplant. Die Änderungen sind jedoch v.a. redaktioneller Art und beispielsweise dienen dazu, Konsistenzprobleme und Verweise auf ungültig gewordene Normen zu korrigieren.
Die IEC 60601-1-6 im Überblick
Die Norm besteht seit 2010 v.a. auf normativen Verweisen auf anderen Normen:
- Zuerst auf die IEC 60601-1, die Grundnorm mit ihren Amendments
- Dann auf die IEC 60601-1-8, die Norm für die Alarmsysteme
- Schließlich auf die neuste Aufgabe der IEC 62366-1:2015 + Amendments
- Und natürlich auf die ISO 14971:2012
Die IEC 60601-1-6 nutzt auch die Definitionen dieser referenzierten Normen, ersetzt allerdings einige Begriffe wie „User“ durch „Operator“, um den Bezug zur Begriffswelt der IEC 60601-1 herzustellen. Sie verlinkt zudem Begriffe der IEC 62366 und der IEC 60601-1 wie „Medizinprodukt“ mit „ME-Gerät“, „Sicherheit“ mit „grundlegende Sicherheit und Leistungsanforderungen“, „User Interface“ mit „Operator Interface“.
Müsste man mit einem Satz ausdrücken, was die IEC 60601-1-6 verlangt, wäre es dieser:
„Arbeite konform mit der IEC 62366-1:2015.“
Fazit
Die Tage der IEC 60601-1-6 sind gezählt. Es bedarf dieser Norm nur noch aus formalen Gründen, beispielsweise um Übergangsfristen abzudecken und normative Verweise nicht ins Leere laufen zu lassen.
Die IEC 60601-1-6 gehört so schnell wie möglich zurückgezogen. Wir benötigen keine zwei Normen für die Gebrauchstauglichkeit.
Du hast uns gute Dienste geleistet, liebe IEC 60601-1-6. Ruhe in Frieden. Aber ruhe bald!
Hallo Herr Johner,
wir sind Händler von einem medizinisch elektrischen Gerät, welches von einem US-Hersteller stammt. Das Gerät wird mit einem US-Netzstecker geliefert. Die Kunden in Europa sollen einen entsprechenden Adapter nachbestellen.
Gibt es eine regulatorische / rechtliche Vorgabe die den Hersteller aus den USA verpflichtet, dass das Gerät in Europa mit einem EU-Netzstecker oder einem mitgelieferten Adapter bereitgestellt werden muss? Wenn ja, wo ist das festgelegt?
Oder ist die Vorgehensweise, dass ein Adapter / Netzstecker nachbestellt werden muss legitim?
Besten Dank im Voraus!
Schöne Grüße, Maximilian
Sehr geehrter Maximilian,
es gibt keine Vorgabe dafür, welcher Stecker bereitgestellt werden muss. Allerdings gibt es eine Vorgabe, den bestimmungsgemäßen Gebrauch zu spezifizieren. Zu diesem gehört auch die Vorgabe, wie man das Gerät im EU-Markt betreiben muss. Das wiederum bedingt, dass der Hersteller klar spezifiziert, mit welchen Kabeln sein Produkt verwendet werden soll. Und im Risikomanagement und in der „IEC 60601-1-Akte“ muss er sichergestellt haben, dass diese Kombination allen regulatorischen Anforderungen genügt und dass die Risiken beherrscht sind, die dadurch entstehen, dass ein Anwender/Kunde ein anderes Kabel verwendet (vorhersehbarer Missbrauch).
Beste Grüße, Christian Johner