Der Begriff „Medizinprodukte-PC“ ist nicht eindeutig definiert. Allerdings verstehen unter einem Medizinprodukte-PC die meisten
- entweder einen PC, der als ein Medizinprodukt zusammen mit der Software in Verkehr gebracht wird,
- oder einen PC, der aufgrund seiner elektrischen Sicherheit und elektromagnetischen Verträglichkeit geeignet ist, um z. B. im OP eingesetzt zu werden. Dabei ist der PC aber selbst kein Medizinprodukt, da erst der Inverkehrbringer oder Betreiber z. B. durch das Aufspielen von Software die dazu notwendige Funktionalität bereitstellt.
Abhängig von den Konstellationen müssen die Hersteller unterschiedliche regulatorische Anforderungen erfüllen. Diese werden im vorliegenden Artikel vorgestellt.
1. Fallunterscheidungen bei Medizinprodukte-PCs
Fall A: Standalone-Software wird ausgeliefert
Wenn Sie als Hersteller nur Standalone-Software ausliefern, stellt sich die Frage nach den Medizinprodukte-PCs noch nicht. Diesen Fall müssen wir im Rahmen dieses Artikels nicht weiter untersuchen.
Fall B: Software wird mit PC ausgeliefert
Doch was passiert, wenn Sie Ihre Software gemeinsam mit der Hardware ausliefern?
Gründe dafür sind z. B.:
- Ihren Code vor Diebstahl schützen
- Sicherzustellen, dass Ihre Software auf der spezifizierten bzw. auf ausreichend dimensionierter Hardware läuft
- Risiken durch eine Ihnen nicht bekannte Hardware minimieren
- Mit der Hardware etwas Geld dazuverdienen 🙂
Beispiele für diese Fälle sind:
- Software für die Therapieplanung (Bestrahlungsplanung, Medikationsplanung)
- Software für die In-vitro-Diagnostik (z. B. für Trisomie 21)
- zur Betrachtung und Befundung von radiologischen Bildern
Fall C: Medizinprodukt aus Software und Hardware („ohne Patientenkontakt“)
Es kann auch sein, dass die Software überhaupt nicht ohne die Hardware ausgeliefert werden kann, insbesondere wenn es sich um eine spezielle Hardware handelt, z. B.:
- Besondere externe Anschlüsse
- Eigenentwickelte Hardware-Komponenten bzw. FPGA
- Spezielle mechanische, elektromechanische, pneumatische oder hydraulische Komponenten
Auch wenn ein spezielles oder eigenentwickeltes Betriebssystem zum Einsatz kommt, ist die gemeinsame Auslieferung erforderlich. Zu Beispielen für diesen Fall zählen:
- IVD, die nicht nur Software sind
- Systeme mit besonderen Anforderungen an die Rechenleistung, z. B. bei Simulation, Bildverarbeitung oder Therapieplanung
Der Unterschied zwischen den Fällen B und C besteht darin, dass bei B der Hersteller entscheiden kann, ob er die Medizinprodukte-Software mit oder ohne Hardware ausliefert, und im Fall C beides als eine Einheit, als ein Medizinprodukt konzipiert.
Fall D: PC ist kein Medizinprodukt
Einige Hardware-Hersteller vermarkten sogenannte „Medizinprodukte-PCs“, die selbst gar kein Medizinprodukt sind, die aber im „Patienten-Umfeld“ wie dem OP oder als Komponenten für Medizinprodukte-Hersteller eingesetzt werden (Fall B).
Fall E: Medizinprodukt aus Software und Hardware („mit Patientenkontakt“)
Die Grenzen zwischen Medizintechnik und IT verschwimmen zunehmend. So sind Ultraschallgeräte im Wesentlichen PCs, die über ein sogenanntes Anwendungsteil verfügen, hier über eine Ultraschall-Sonde. Auch EKG fallen immer häufiger in diese Geräteklasse.
2. Regulatorische Anforderungen an Medizinprodukte-PCs
a) Regularien in der Übersicht
Als Regularien kommen in Betracht:
- EU-Medizinprodukteverordnung MDR und nationale Gesetze wie das MPDG
- Allgemeine Normen für Medizinprodukte, wie ISO 14971, IEC 62366-1 und IEC 62304
- Regularien, die Anforderungen an die elektrische Sicherheit und elektromagnetische Verträglichkeit stellen, wie die IEC 60601-1 und die VDE 0751 bzw. VDE 0702
- Allgemeine Anforderungen an Produkte (nicht nur Medizinprodukte), wie die (elektrische) Sicherheit
b) Mapping der Regularien auf die oben beschriebenen Fälle
Fall A: Standalone-Software
Für Medizinprodukte, die nur aus Standalone-Software bestehen, sind die Regularien 1 und 2 einzuhalten, also insbesondere die ISO 14971, IEC 62366 und IEC 62304.
Fälle B und C: Software wird mit Hardware ausgeliefert, kein Patientenkontakt
Für diese Fälle gelten die gleichen Anforderungen wie bei Fall A); allerdings wird der Hersteller Hardware einkaufen (oder entwickeln), die den allgemeinen Anforderungen an Produkte genügen (4.).
Diese Hardware muss nicht die Anforderungen gemäß 3. (also insbesondere nicht der IEC 60601-1) erfüllen. Weshalb, das lesen Sie weiter unten.
Fall D): PC ist kein Medizinprodukt
Da der PC kein Medizinprodukt ist, muss er keine spezifischen regulatorischen Anforderungen (1., 2., 3.) erfüllen, sondern nur die allgemeinen Anforderungen (4.). Schließlich ist der Hersteller dieses Medizinprodukte-PCs kein Inverkehrbringer eines Medizinprodukts.
Allerdings wird der Hersteller die Regularien gemäß 3. einhalten, weil das ja genau das Nutzenversprechen ist, dass er seinen Kunden gibt.
Fall E: PC ist Medizinprodukt mit „Patientenkontakt“
In diesem Fall sind die Forderungen 1., 2. und 3. einzuhalten. Hier müssen sich Hersteller definitiv um die IEC 60601-1 und Aspekte wie Ableitströme, Luft- und Kriechstrecken kümmern.
Die spezifischeren Anforderungen der IEC 60601-1 „überschreiben“ die Anforderungen an die elektrische Sicherheit bei allgemeinen Produkten.
Zusammenfassung
Fall | 1. MDR | 2. Allg. Normen wie ISO 14971 | 3. Elektr. Sicherheit, IEC 60601-1 u. a. | 4. Allg. Anf. an alle Produkte |
---|---|---|---|---|
Fall A: Standalone-Software (SW) | x | x | — | x |
Fall B: Software (Medizinprodukt) inkl. PC-Hardware (HW) | x | x | — | x |
Fall C: Medizinprodukt aus SW und (PC-)HW | x | x | — | x |
Fall D: Medizinprodukte-PC, kein Medizinprodukt | — | — | ?? | x |
Fall E: Medizinprodukt mit Patientenkontakt | x | x | x | — |
3. Wann die IEC 60601-1 anzuwenden ist
a) Definitionen
Die IEC 60601-1 gilt nach eigener Aussage (nur) für die Basissicherheit und die wesentlichen Leistungsmerkmale von medizinischen elektrischen Geräten (ME-Geräte) und medizinischen elektrischen Systemen (ME-Systeme). Dabei definiert die IEC 60601 die Begriffe wie folgt:
Ein ME-Gerät ist ein elektrisches Gerät, das ein Anwendungsteil hat oder das Energie zum oder vom Patienten überträgt bzw. eine solche Energieübertragung zum oder vom Patienten anzeigt, und für das Folgendes gilt:
- ausgestattet mit nicht mehr als einem Anschluss an ein bestimmtes Versorgungsnetz und
- von seinem Hersteller zum Gebrauch bestimmt:
- in der Diagnose, Behandlung oder Überwachung eines Patienten,
- zur Kompensation oder Linderung einer Krankheit, Verletzung oder Behinderung.
Teil des ME-Geräts, das bei bestimmungsgemäßem Gebrauch zwangsläufig in physischen Kontakt mit dem Patienten kommt, damit das ME-Gerät oder ein ME-System seine Funktion erfüllen kann
Ein ME-System ist die Kombination von einzelnen Geräten, wie vom Hersteller festgelegt, von denen mindestens eines ein ME-Gerät sein muss und die durch eine Funktionsverbindung oder durch den Gebrauch einer Mehrfachsteckdose zusammengeschlossen sind.
b) Schlussfolgerungen
Die IEC 60601-1 ist nur bei ME-Geräten bzw. ME-Systemen anwendbar.
- In den Fällen A, B und C ist das nicht gegeben; die IEC 60601-1 ist also nicht anwendbar.
- Im Fall D (Medizinprodukte-PC) lässt sich die Frage nicht eindeutig beantworten, weil noch nicht klar ist, was der Medizinproduktehersteller bzw. der Betreiber damit machen will.
- Im Fall E ist die IEC 60601-1 einzuhalten.
Die hier aufgeführten Publikationen zur IEC 60601-1 geben einen fundierten Einblick in das Thema.
4. Software mit oder ohne PC in Verkehr bringen?
Die folgende Gegenüberstellung kann als Entscheidungshilfe dienen bei der Beantwortung der Frage, ob Hersteller ihre Software mit oder ohne Hardware (d. h. PC) als ein Medizinprodukt in den Verkehr bringen sollten.
Pro
Software inklusive Hardware
als ein Medizinprodukt
- Sie können die Hardware teuer verkaufen. Sie ist schließlich ein Medizinprodukt. 🙂
- Sie haben das Gesamtsystem besser im Griff, können Risiken genauer abschätzen und besser beherrschen. Das macht beispielsweise Apple-Rechner etwas stabiler als Windows-Systeme. Sagen zumindest die Apple-Jünger 😉
Contra
Software inklusive Hardware
als ein Medizinprodukt
- Bei jeder Hardwareänderung – und das dürfte bei den heutigen Produktzyklen häufig sein – ist eine erneute Konformitätsbewertung notwendig.
- Diese Konformitätsbewertung beinhaltet auch den PC. Die elektromagnetische Verträglichkeit und die elektrische Sicherheit sind also beispielsweise zu prüfen, was fünfstellige Summen kostet.
- Sie schränken die Anzahl von Käufern ein, die mit eigener Hardware arbeiten wollen.
Hersteller, die Software und Hardware als ein Medizinprodukt in den Verkehr bringen, müssen ein (!) Konformitätsbewertungsverfahren für das gesamte Produkt durchlaufen. Die Entscheidung für oder gegen die „Bündelung“ mit Hardware kann einen Einfluss auf die Klasse des Medizinprodukts und damit auf die möglichen Konformitätsbewertungsverfahren haben.
Wenn Sie sich für die Variante „Standalone-Software“ entscheiden, müssen Sie in deren Zweckbestimmung festlegen, in welcher Umgebung diese laufen muss bzw. darf (d. h. auf welcher Hardware, welchem Betriebssystem, welchen sonstigen Ressourcen).
Was die bessere Variante ist, kann nur im Einzelfall entschieden werden. In meinen Augen ist es die elegantere Lösung, nur die die Software als Medizinprodukt in Verkehr zu bringen – wenn das Risikomanagement das erlaubt.
5. Fazit und Zusammenfassung
Es fehlt ein gemeinsames Verständnis, was unter einem Medizinprodukte-PC zu verstehen ist. Dieser Artikel hat fünf Anwendungsfälle vorgestellt, bei denen jeweils andere regulatorische Anforderungen zu erfüllen sind.
Für welche Variante sich die Hersteller entscheiden sollten, hängt von der Zweckbestimmung, dem „Business Case“, dem Risikomanagement und anderen Faktoren ab.
Melden Sie sich, wenn Sie sichergehen wollen, dass Sie sich für die richtige Variante entschieden und alle regulatorischen Anforderungen erkannt und erfüllt haben.
Änderungshistorie
- 2023-06-04: Artikel aktualisiert, Abschnitt 4 komplett überarbeitet, Abschnitt 5 ergänzt
- 2015-06-12: Erste Version des Artikels erstellt