Die digitale Transformation Benannter Stellen wird das Medizinprodukte-Ökosystem in den nächsten Jahren spürbar umkrempeln. Dieser Artikel beschreibt
- die Auswirkungen dieser Digitalisierung auf die Benannten Stellen (Prozesse, Mitarbeitende, Geschäftsmodelle)
- die positiven und negativen Konsequenzen für Medizinproduktehersteller und weitere Akteure sowie
- die möglichen Schritte bei der digitalen Transformation Benannter Stellen (Transformationsprozess).
Falls Sie wenig Zeit haben, dann lesen Sie nur die für Sie relevanten Kapitel:
- Führungskräfte bei Benannten Stellen: Kapitel 1., 2.a), 2.c) und 4.
- Andere Mitarbeitende bei Benannten Stellen: Kapitel 2.a) und 2.b)
- Medizinproduktehersteller: Kapitel 3.a) und 3.b)
1. Treiber der digitalen Transformation Benannter Stellen
Die Phase neigt sich dem Ende zu, in der sich die Benannten Stelle als Oligopol die Kunden aussuchen und die Preise und Bedingungen bestimmen durften. Denn die Rahmenbedingungen haben sich innerhalb weniger Jahre nennenswert geändert.
Treiber 1: Wettbewerbsdruck und steigende Marktmacht der Kunden
Mehrere große Venture Capital-Firmen haben erkannt, dass in Europa ein nicht mehr funktionaler Multi-Milliardenmarkt entstanden ist. Wenn sich solche Dysfunktionalitäten skalierbar, d.h. mit Software beseitigen lassen, werden diese beseitigt.
Erste Investitionen sind bereits getätigt. Dabei haben die Investoren verstanden, dass es vorteilhaft ist, künftige Benannte Stellen nicht im DACH-Raum zu gründen, sondern in Ländern, die sich auf die notwendigen Vorgaben fokussieren, statt unnötige regulatorische, administrative und technologische Hürden zu errichten.
Die Unique Selling Propositions künftiger Wettbewerber liegen auf der Hand:
- Ein Bruchteil der Bearbeitungs- und Reaktionszeiten – Dank Digitalisierung
- Convenience, Wertschätzender Umgang mit persönlichen „Stewards“
- Niedrigere Kosten
Sobald die Hersteller mit einer neuen Benannte Stelle diese Vorteile nutzen können, insbesondere eine kürzere Time-to-market, werden sie das tun. Das wird zu einem Dammbruch führen.
Treiber 2: Regulatorische Rahmenbedingungen
Die regulatorischen Rahmenbedingungen, die den Benannten Stellen erfolgreiche Jahre mit starkem Wachstum beschert haben, drehen sich zunehmend gegen sie:
- Der MDR-Boom geht trotz verlängerter Übergangsfristen zu Ende.
- Der Unmut in der Politik über die Benannten Stellen ist gewachsen. Erste Stimmen stellen das Konzept privatwirtschaftlich organisierter Benannter Stellen in Frage. Bei einigen Produkten zieht bereits die EMA die Kompetenzen an sich.
- In Ländern wie der Schweiz erhalten Produkte mit einer FDA-Clearance Marktzulassung. Wenn dieses Beispiel in den europäischen Ländern Schule machen sollte, würde der Bedarf an Benannten Stellen schlagartig sinken.
- Immer mehr Hersteller beschließen, auf dem amerikanischen Markt mit planbareren Zulassungsverfahren zu beginnen und dann erst zu entscheiden, ob und wann sie ihre Produkte auch in Europa vermarkten.
Treiber 3: Mitarbeitende der Benannten Stellen
Auch eine hochgradig digitalisierte Benannte Stelle, kann auf hochqualifizierte Mitarbeitende nicht verzichten. Auch hier verschieben sich die Gewichte zu Ungunsten der Benannten Stellen:
- Es steht eine große Welle an Mitarbeitenden (die „Boomer“) an, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen.
- Die neue Generation an Mitarbeitenden stellt hohe Anforderungen an die Arbeit und deren Sinnhaftigkeit. Dazu zählen nicht Bürokratie, das Lesen von Tausenden Textseiten, das mühsame Suchen und Kopieren von Inhalten, generell Arbeit, die sich automatisieren lässt.
- Es herrscht ein Fachkräftemangel. Insbesondere ist es schwer, Fachkräfte für die „emerging technologies“ zu finden.
Treiber 4: Technologische Weiterentwicklung
Genau diese Technologien finden immer Anwendung in Medizinprodukten. Der besonders im Bereich des Machine Learnings atemberaubende technologische Fortschritt macht es notwendig, dass die Konformität von Medizinprodukten um Größenordnungen schneller und häufiger bewertet werden muss. Dazu sind die Prozesse vieler Benannter Stellen nicht in der Lage.
Zwar sind es auch diese Technologien, welche die Digitalisierung bestehender Benannter Stellen ermöglichen. Aber gleichzeitig werden neue Wettbewerber diese (besser?) zu nutzen wissen, die zudem keine „Legacy-Strukturen“ transformieren müssen.
Zwischenfazit
Die Benannten Stellen müssen sich auf deutlich geänderte Rahmenbedingungen einstellen. Die Digitalisierung ist dafür eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Voraussetzung.
2. Auswirkungen auf die Benannten Stellen
Diese Digitalisierung betrifft die Benannten Stellen in Gänze:
- Die Digitalisierung verändert deren Prozesse.
- Die tägliche Arbeit der Mitarbeitenden Benannter Stellen wandelt sich nennenswert.
- Die Benannten Stellen müssen ihre Geschäftsmodelle anpassen.
a) Auswirkung auf die Prozesse
Die Digitalisierung betrifft sowohl Kern- als auch Unterstützungsprozesse wie beispielsweise:
- Antrags- und Vertragsprüfung
- Konformitätsbewertung, Prüfung der Technischen Dokumentation und Auditierung
- Zertifizierung
- Herstellerüberwachung
- Projektdurchführung / Projektmanagement
- Management der festangestellten und freiberuflichen Mitarbeitenden (Onboarding, Qualifizierung, Autorisierung)
- Zusammenarbeit mit Behörden
- Integration von Prüflaboren
- Eigene interne und externe (z.B. ZLG-)Audits
Die Benannten Stellen werden ihre Prozesse so gestalten, dass sie eine agile Entwicklung von Medizinprodukten ermöglichen. Das setzt eine hohe Integration mit den Herstellersystemen voraus.
Zwei Prozesse sollen als Beispiele für die Transformation dienen.
1. Beispiel: Prüfung der Technischen Dokumentation
Die Prüfung der Technischen Dokumentation wird weitgehend dokumentenfrei erfolgen. Die Informationen haben die Hersteller über standardisierte Schnittstellen in das Software-System übertragen. Dort liegen sie in einheitlicher und redundanzfreier Form vor.
Das Suchen von Informationen sowie alle Basisprüfungen wie Vollständigkeits- und Konsistenz- und Plausibilitätsprüfungen hat das System bereits durchgeführt wie beispielsweise:
- Gibt es wesentliche Leistungsmerkmale, die nicht in der Risikoanalyse adressiert werden?
- Stimmen die Angaben beim bestimmungsgemäßen Gebrauch wie die physikalische Umgebung (Verschmutzung, Spannungsversorgung, Höhe über dem Meeresspiegel, Temperaturbereiche) mit Angaben in der „60601-Akte“ überein wie der IP-Klasse und der Dimensionierung von Kriechstrecken?
- Sind die gefährdungsbezogenen „Use Scenarios“ im Risikomanagement untersucht?
- Liegt für ein Software-System der Software-Sicherheitsklasse C die Feinarchitektur vor?
- Stimmen die Literaturangaben in der klinischen Bewertung? Hat der Hersteller alle einschlägige Literatur für die Produktklasse berücksichtigt?
Die Prüfalgorithmen berücksichtigen automatisch die jeweils gültigen Versionen der (harmonisierten) Normen und die zugehörigen Übergangsfristen.
Den Reviewern steht somit eine weitgehend geprüfte Dokumentation zur Verfügung. Bei Rückfragen kommunizieren Sie direkt im System und direkt an der Stelle der fraglichen Information, so dass es keinen Zweifel über den Gegenstand der Dokumentation gibt.
Mit Hilfe des Systems erstellen die Prüfer auf Knopfdruck Abweichungsberichte oder leiten die Akte zur weiteren Bearbeitung z.B. an die Zertifizierstelle weiter.
2. Beispiel: Projektmanagement
Viele lästige und aufwändige Aufgaben beim Projektmanagement entfallen ganz oder teilweise:
- Kapazitätsprüfungen
- Finden geeigneter Prüfer und Gewährleistung von deren Autorisierung
- Terminfindung: Beispielsweise könnten Kunden selbst Termine buchen, welche das System identifiziert und welche die Benannte Stelle bestätigt hat.
- Projektplanung: Das System lernt aus der Produktklasse, dem Hersteller und der Historie die Aufwände abzuschätzen und kann Abhängigkeiten der Tätigkeiten, Autorisierungen berücksichtigen.
- Eskalation bei der Überschreitung von Fristen (Hersteller und Benannte Stellen)
- Rescheduling bei Verzögerungen
Sowohl Hersteller als auch Benannte Stellen hätten jederzeit die Transparenz über den Projektfortschritt und wüssten, wer und was den Fortschritt behindert. Für den dann unwahrscheinlicheren Streitfall ist die Projekthistorie dokumentiert.
b) Auswirkungen auf die Mitarbeitenden
Aufgaben fallen weg
Durch die Automatisierung fallen viele Aufgaben, insbesondere bei den Prüfungen von Technischen Dokumentationen und Qualitätsmanagementsystemen, weg:
- Suchen von Informationen (in Unterlagen, in externen Datenbanken, in der Kommunikationshistorie)
- Prüfungen von Unterlagen auf Vollständigkeit, Konsistenz und Plausibilität
- Viel Kommunikation wie das Nachfragen und Anfordern von Unterlagen
- Arbeiten an „n/a“ Abschnitten
- Große Teile des Schreibens von Berichten
- Auswertungen und Dokumentation auch in Vorbereitungen auf eigene Audits
- Projektmanagement, Terminfindung, Eskalationen, Finden von autorisierten Expertinnen und Experten
- Standardkommunikation mit Behörden und Behördendatenbanken
Damit sollten viele bürokratische und wenig wertschaffende Aufgaben obsolet werden und die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns wieder in den Vordergrund treten.
Systeme sollten dabei so gestaltet sein, dass sie als Unterstützung wahrgenommen werden und nicht als „neuer Chef“. Beispielsweise sollten die TD-Reviewer (vom System als für sie als passend identifizierte) Projekte auswählen und nicht vorgegeben bekommen.
Aufgaben ändern sich
Durch die Digitalisierung ändern sich die Aufgaben:
- Häufiger müssen Grenzfälle bearbeitet werden, welche die Software (noch) nicht abbildet oder bei denen deren Regeln überschrieben werden müssen.
- Die Mitarbeitenden können leichter die Kunden durch den kompletten Prozess begleiten und wie ein „Case Manager“ eines Krankenhauses agieren. Das verstärkt die Zusammenarbeit mit den Kunden.
- Die Mitarbeitenden werden stärker als „Solution Teams“ agieren, die sich Aufgaben aus einem Pool holen.
- Sie werden häufiger kleinere Produktänderungen begleiten, da die Produkte der Kunden verstärkt Software nutzen und da die eigenen Systeme regelmäßige Iterationen erlauben.
- Für ihre Arbeit stellt das System den Expertinnen und Experten automatisch notwendiges Kontextinformationen zu Technologien, medizinischen Grundlagen und Verfahren und anderen Produkten zur Verfügung, was den eigenen Kompetenzaufbau befördert und profundere Entscheidungen erlaubt.
Den Mitarbeitenden sollten sich bewusst sein, dass die Systeme eine Transparenz über die geleistete Arbeit schaffen.
Neue Aufgaben entstehen
Die Mitarbeitenden bei Benannten Stellen können sich auf Aufgaben spezialisieren, die es bisher nicht oder nicht in diesem Umfang gab:
- Verbesserung der IT-Systeme
- Weiterentwicklung der Systeme z.B. deren Algorithmen
- Customizing der Systeme (vergleichbar mit Salesforce)
- Validierung der Systeme
- Datenauswertung
- Leistungsfähigkeit und Konformität der eigenen Organisation
- Betrugsbekämpfung (einige Hersteller werden versuchen, das System zu überlisten)
- Erkennen von produktübergreifenden Risikofaktoren (Hersteller, Produktklasse, Technologien, medizinische Domäne usw.)
- Management und Entwicklung neuer Geschäftsmodelle
Neue berufliche Möglichkeiten entstehen
Für die Mitarbeitenden Benannter Stellen entstehen neue Möglichkeiten:
- Durch die Harmonisierung werden Ihnen Wechsel leichter gemacht:
- Festangestellte <=> Freiberufliche TätigkeitWahl der Benannten Stelle (deshalb wird die Unternehmenskultur bedeutsamer)
- Benannte Stelle <=> Hersteller (da die ebenfalls mit den Systemen arbeiten)
- Die neuen Aufgaben führen zu neuen Karrierepfaden jenseits von Auditor, Lead-Auditor, Gruppen- und Abteilungsleiter.
Fazit
Für Mitarbeitende Benannter Stellen bedeutet die Digitalisierung viele Vorteile: Sinnvollere Aufgaben, ein größeres Spektrum an Aufgaben und neue Entwicklungsmöglichkeiten.
Für Menschen, die sich jedem Wandel verschließen, wird es hingegen schwerer.
c) Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle
Die Digitalisierung wird auch die Geschäftsmodelle der Benannten Stellen transformieren:
- Product (das Dienstleistungsangebot)
- Price (neue Preismodelle)
- Place (Anbieten und Form der Distribution der Dienstleistung)
- Promotion
- Process (siehe oben)
- People
Auch hier sollen zwei Beispiele dienen, den Wandel zu verstehen.
Beispiel 1: Product
Für die Benannten Stellen bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten bei der Gestaltung ihrer Produkte / Dienstleistungen:
- Service-Levels
Sie können ihren Kunden verschiedene Service-Levels anbieten: Von weitgehendem „Self-service“ bis „we do it for you“. Das ist vergleichbar mit der Unterstützung bei einer Steuererklärung: Diese kann reichen von einem Steuersparprogramm, das man ohne fremde Hilfe nutzen muss, bis zu einem Steuerberater, dem man den Schuhkarton mit ungeordneten Belegen übergibt. Benannte Stellen dürfen zwar nicht direkt beraten. Aber beim Ausfüllen von Antragsformularen zu helfen, sollte erlaubt sein.
- „Real-time Certification“
Die Service-Levels können auch fast beliebige Geschwindigkeiten repräsentieren bis hin zu einer „Real-time Certification“. Weshalb soll nach einem erfolgreichen Audit und einer zuvor erfolgten erfolgreichen Prüfung der TD nicht das Zertifikat sofort ausgestellt und verschickt werden?
Eine Zertifizierstelle, die Prüfungen vornimmt, die bereits im Vorfeld oder direkt während des Audits gemacht werden können, sollten nicht der Grund für eine wochenlange, manchmal monatelange Verzögerung sein. - Dienstleistung für die FDA
Da nur die Algorithmik etwas angepasst werden muss, können Benannte Stellen mit der Software reproduzierbare Dienstleistungen für andere Behörden wie die FDA anbieten. - Versteigerung von Aufträgen und Angeboten
Die Software stellt eine mehrseitige Plattform dar, auf der Benannte Stellen Angebote und Aufträge „versteigern“ können. Externe Auditoren und Reviewer können steigern, ebenso Beratungsunternehmen, die beim Beseitigen von Nichtkonformitäten helfen. Medizinproduktehersteller überbieten sich, um Slots zu reservieren. - Verkauf anonymisierter Daten
Sowohl die EU-Kommission, die Wissenschaft als auch Unternehmensberatungen dürften an den Daten interessiert sein, die in riesigem Umfang und in strukturierter und damit gut auswertbarer Form anfallen.
Beispiel 2: Price
Das führt direkt zum nächsten Aspekt der Geschäftsmodelle, den Preisen.
Benannte Stellen haben die Möglichkeit, diese Preise sogar dynamisch und automatisiert zu bestimmen abhängig von:
- Produktklasse
- Notwendigem Spezialwissen
- Geschwindigkeit, Dringlichkeit und Termintreue
- Eigene Kapazitäten und Verfügbarkeiten
- Größe des Herstellers
- Anzahl der Produkte des Herstellers
- Häufigkeit der Konformitätsprüfungen eines Produkts
Unabhängig von den Preisen ermöglicht die Digitalisierung neue Bezahlmodelle:
- SaaS (Subscription-Gebühr, übrigens nicht nur für Hersteller, sondern ggf. auch für Freiberufler und Beratungsunternehmen)
- Transaktionsbasierte Gebühren für jede Prüfung, die ein freiberuflicher Auditor durchführt
- Nutzungsbasierte Gebühren z.B. pro Zulassung, pro Produkt ggf. mit Preisstaffeln
- User-basierte Beiträge
Es bietet sich an, die Bestellhürden durch Punktesysteme zu senken, welche sowohl den Einkauf beim Hersteller als auch den Vertrieb bei der Benannten Stellen vereinfachen.
Insgesamt ist wie immer bei der Digitalisierung zu erwarten, dass die Kunden von einer Preisreduktion profitieren werden.
3. Auswirkungen auf andere Akteure
a) Auswirkungen auf die Hersteller
Besserer Service, mehr Angebote
Die Digitalisierung der Benannten Stellen wird viele Wünsche der Hersteller Wirklichkeit werden lassen:
- Niedrigere Preise
Die Preise werden fallen - Kürzere Time-to-market
Sie werden ihre Produkte substanziell schneller in den Markt bekommen, weil die „Zulassungszeiten“ kollabieren werden. - Steigende Usability
Die Usability wird signifikant besser: Statt endlose Word-Formulare auszufüllen, geleitet sie eine zeitgemäße Software durch die Antragsverfahren und die Erstellung der Technischen Dokumentation. - Weniger interne Aufwände
Die internen Aufwände gehen zurück, insbesondere für die Prüfung und Zusammenstellung der Unterlagen für verschiedene Zielmärkte, Behörden und Benannten Stellen. - Einfacherer Wechsel der Benannten Stellen
Der Wechsel Benannter Stellen wird einfacher, weil die Software die Verfahren bei Benannten Stellen „homogenisiert“ und eine Interoperabilität erlaubt. Beides sorgt dafür, dass die Benannten Stellen durch bessere Dienstleistungen die Kunden an sich binden. - Passendere Dienstleistungen
Die Benannten Stellen werden eine breitere und damit passendere Palette an Dienstleistungen anbieten (siehe oben). - Höhere Transparenz und Planungssicherheit
Hersteller profitieren von einer höheren Transparenz und Planungssicherheit über die kompletten Prozesse hinweg. Sie bekommen vom System in real-time noch offene Aufgaben, den Stand der Zulassung und Nicht-Konformitäten angezeigt.
Voraussetzungen
Um diese Vorteile nutzen zu können, müssen die Hersteller ihre eigene Digitalisierung vorantreiben. Denn es nützt wenig, mit bestehenden Prozessen Dokumente zu erstellen, welche die Systeme der Benannten Stellen nicht vollautomatisch verarbeiten können.
Vielmehr stehen die Hersteller vor der Aufgabe, ihre eigene Systemlandschaft umzubauen und eine durchgängige Digitalisierung sicherzustellen. Nur so wird es gelingen, sich in die Systeme der Benannten Stellen zu integrieren.
Diese digitale Transformation ist auch notwendig, um ebenfalls in (nahezu) Real-time Nicht-Konformitäten zu entdecken. Das ist wiederum die Voraussetzung, um die Entwicklungs- und Zulassungszyklen zu beschleunigen.
Hersteller, die die Chance ungenutzt lassen, die Time-to-market radikal zu verringern, werden im Markt nicht bestehen. Die Benannten Stellen werden ihren Teil beitragen. Die Hersteller sind für ihren eigenen Teil verantwortlich.
b) Auswirkungen auf den Gesundheitsmarkt
Der Gesundheitsmarkt und damit Patienten werden ebenfalls von der digitalen Transformation Benannter Stellen profitieren:
- Innovative Medizinprodukte kommen schneller auf den Markt, weil die Verfahren schneller ablaufen.
- Produkte können schneller verbessert werden, weil die Digitalisierung eine agile Entwicklung und Konformitätsbewertung ermöglicht.
- Die Kosten für die Produkte können sinken, weil die regulatorischen Aufwände bei Herstellern und Benannten Stellen sinken.
- Die Sicherheit der Produkte wird steigen, weil zum einen Prüfschritte automatisiert und damit nicht mehr vergessen werden und zum anderen, weil die Prüfungen externe Daten (Wettbewerbsprodukte, Behördenmeldungen, klinische Fachliteratur) systematisch berücksichtigen.
c) Auswirkungen auf den Gesetzgeber
Die Verfügbarkeit strukturierter Daten verschafft dem Gesetzgeber eine hohe Transparenz, die er nutzen kann, um Gesetze zu verbessern, insbesondere Risiken speziell zu adressieren und unnötige Hürden abzubauen. Das wird insbesondere für die Evaluation der MDR und eine künftige Verbesserung wesentlich sein.
Sobald ein Modell für das regulatorische System vorliegt, lassen sich anhand dieser Daten geplant Gesetzesänderung simulieren.
Die Digitalisierung der Prozesse schafft auch die Grundlage für agile, iterativ-inkrementelle Zulassungsverfahren, wie sie die FDA bereits durchführt.
Die Überführung der Gesetze in Algorithmen ist der Einstieg in einer Regulation as Code.
4. Transformationsprozess
a) Unterschiede von neuen und bestehenden Benannten Stellen
Die digitale Transformation Benannter Stellen ist ein Transformationsprozess, der nie abgeschlossen sein wird. Diese Transformation müssen die bestehenden Benannten Stellen so durchführen, dass sie ihre Konformität und Leistungsfähigkeit nicht einbüßen. Neuen Benannte Stellen bleibt diese Transformation erspart. Sie starten mit digitalisierten Prozessen.
b) Dimensionen der Transformation
Die Benannten Stellen können mehrere Dimensionen nutzen, wie sie sich schrittweise digital transformieren:
Dimension 1: Auswahl und Reihenfolge der zu digitalisierenden Prozesse
Die Benannten Stellen haben die Wahl, mit welchen Prozessen und Teilprozessen sie die Digitalisierung beginnen. Beispielsweise könnten sie mit der Antragstellung und der automatisierten Antragsprüfung beginnen und mit der Automatisierung der TD-Prüfung fortfahren.
Ebenso ist es möglich, als ersten Schritt nur Teilprozesse z.B. innerhalb der TD-Prüfung die Erstellung von Prüfberichten zu digitalisieren.
Dimension 2: Tiefe der Digitalisierung
Das Johner Institut nutzt ein Stufenmodell, um den Digitalisierungsgrad zu quantifizieren:
Level | Definition | Beispiele |
0 | Keine IT-Unterstützung | Papierformulare |
1 | Elektronische Verarbeitung nicht strukturierter Daten | Ausgefüllte PDF; E-Mails |
2 | Rudimentäre Workflow-Unterstützung | Automatisierung von E-Mails; Skripte zum Suchen in nicht-strukturierten Formularen |
3 | Erfassung strukturierter Daten | Einsatz von Datenbanken mit definiertem Datenschema zum Erfassen aller Überwachungsergebnisse; Erfassung einer Zweckbestimmung anhand eines definierten Datenmodells; Unterstützung von Suchen und Filtern |
4 | Vollständige Automatisierung der Aufgaben durch Algorithmen auf den strukturierten Daten | Automatisierte Konsistenzprüfung einer technischen Dokumentation; Berechnung eines Risiko-Scores für Hersteller und Produkte |
5 | Strategische Unterstützung z.B. durch Datenanalysen und Vorhersagemodelle | Fortlaufende dynamische Bewertungen und Prognosen |
Eine digitale Transformation Benannter Stellen kann sich entlang dieses Modells von Level 0 nach oben zu Level 5 vorarbeiten.
Dimension 3: Produkte
Benannte Stelle haben die Möglichkeit anhand des Beispiels einer sehr eingeschränkten Klasse an Produkten zu beginnen z.B. nur mit Software as Medical Device oder nur wiederverwendbaren chirurgischen Instrumenten.
Dimension 4: Reifegrad der Software
Die meisten Digitalisierungsobjekte durchlaufen mehrere Reifegrade vom Proof of Concept, über einen Prototyp und eine Betaversion bis zur kommerziell nutzbaren „business critical“ Software.
c) Stakeholder-Anforderungen
Eine unabdingbare Voraussetzung für die Transformation ist das systematische Erheben der Stakeholder-Anforderungen:
- Regulatorische Anforderungen
In dem hochregulierten Bereich ist dieser Typ an Anforderungen besonders relevant. - Fachliche Anforderungen
Aus den regulatorischen Anforderungen und internen Vorgaben leiten sich fachliche Anforderungen, d.h. Anforderungen an die Arbeitsergebnisse ab. Diese bilden den direkten Input insbesondere für die Algorithmen z.B. die Prüflogik. - Organisatorische Anforderungen
Wie bei den fachlichen Anforderungen sind die regulatorischen Vorgaben sowie die internen Vorgaben (z.B. SOPs) Treiber von organisatorischen Anforderungen, die allerdings nicht alle in Systemanforderungen resultieren. - Nutzungsanforderungen
Um die Gebrauchstauglichkeit der Produkte zu gewährleisten, ist es unerlässlich, die methodisch Nutzungsanforderungen zu erheben. Denn diese können nicht direkt erfragt werden. Die Besonderheit dabei ist, dass die Nutzungsanforderungen für den Soll- und nicht den Ist-Zustand identifiziert werden müssen. Andernfalls würden suboptimale Prozess zementiert.
Das Johner Institut hat die regulatorischen und fachlichen Anforderungen bereits erhoben (z.T. sogar mitgestaltet). Seine Expertinnen und Experten verfügen sowohl über das präzise Zielbild (Soll-Zustand) als auch über die methodischen Kompetenzen, um die individuellen Anforderungen der Stakeholder (hier der Benannten Stellen) zu erheben.
d) Best Practices bei der digitalen Transformation Benannter Stellen
Einige Best Practices helfen dabei, die digitale Transformation Benannter Stellen erfolgreich, d.h. in der geplanten Zeit, im geplanten Budget und den erwarteten Ergebnissen zu durchlaufen.
- Klare Vision erstellen
Dieser Artikel kann dazu dienen, diese Vision einschließlich der Angebote und Geschäftsmodelle zu erstellen. - Team einbinden
Die Digitale Transformation bedarf eines guten Change Managements. Vorbehalte müssen gehört und berücksichtigt werden. Oft helfen progressive Mitarbeitende dabei, Dinge auszuprobieren und dem Rest des Teams die Gewissheit des Erfolgs zu geben. - Kunden und Lieferanten einbinden
Viele Digitalisierungsprojekte scheitern, weil die Kunden und Lieferanten (hier freiberufliche Auditoren und Reviewer) nicht eingebunden werden. Ein systematischer Customer Research und die Digitalisierung gemeinsam mit experimentierfreudigen Kunden hilft, die tatsächlichen Anforderungen früh zu erkennen und zu berücksichtigen. - Roadmap erstellen
Anhand der oben genannten Dimensionen lässt sich die Transformation in kleine beherrschbare Projekte unterteilen. Eine Roadmap sollte spezifisch für jede Benannte Stelle festlegen, welche kleinen Würfel aus dem multidimensionalen Kubus in welcher Reihenfolge angegangen werden sollen, um die Risiken möglichst früh zu identifizieren und zu beherrschen.
Das Johner Institut unterstützt Benannte Stellen bei deren Digitalisierung und der Auswahl der passenden Roadmap.
Dabei legt es auch einen Fokus auf die Konformität der Benannten Stelle (z.B. mit den Vorgaben des eigenen QM-Systems) und auf die Integration in bestehende Systemlandschaften.
5. Fazit und Zusammenfassung
Das regulatorische System hat den Benannten Stellen gute Jahre beschert. Doch nicht nur die regulatorischen Rahmenbedingungen ändern sich, wie im ersten Kapitel dargestellt. Die Änderungen erfolgen ähnlich wie bei der KI mit exponentieller Geschwindigkeit. Langsame Änderungen zu Beginn führen regelmäßig zu Fehleinschätzungen der weiteren Änderungsgeschwindigkeit.
Diese Änderungen haben zur Folge, dass die Benannten Stellen ihre Prozesse und Geschäftsmodelle anpassen müssen, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten und die Anforderungen ihrer Kunden zu erfüllen. Ihre bereits existierenden Strukturen stellen im Vergleich zu neu gegründeten Benannten Stellen nicht nur einen Vorteil dar.
Die digitale Transformation Benannter Stellen ist mehr als nur eine Digitalisierung. Sie schafft die Voraussetzung, um diese Wettbewerbsfähigkeit weiterhin gewährleisten und die neuen Möglichkeiten (z.B. Geschäftsmodelle) nutzen zu können.
Die digitale Transformation Benannter Stellen ist wie der Name nahelegt ein Transformationsprozess, welcher die bestehenden Prozesse, die bestehende Systemlandschaft und v.a. die tägliche Arbeit grundlegend verändern wird – zum Guten. Diese Chance sollten die Benannte Stellen nutzen.
Vielen Dank für diesen hoffnungsvollen und richtungsweisenden Beitrag.
Allerdings bin ich weniger überzeugt, dass die angedeuten Änderungen in den zugrundeliegenden Geschäftsmodellen auch umgesetzt werden. Solange die Benannte Stellen in Ihrer Aussenwirkung als moderne Dienstleister mit absurd hohen Stunden- und Tagesätzen auftreten können, aber gleichzeitig internen Arbeitsabläufe abbilden, die an eine frustiert verkrustete Behördenmentalität erinneren, wird es einen deutlichen Umbruch nicht geben können. Eine grundlegende Reform ist nötig.
Dafür ist jedoch ein politischer Wille nötig, der Innovation, Digitalisierung als Chance und Mut zum Umbruch in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Handelns stellt.
Lieber Herr Buttron,
danke für Ihre Gedanken! Ob die BS ihre Geschäftsmodelle ändern werden, kann ich natürlich nicht einschätzen. Ich bin mir hingegen ziemlich sicher, dass der Wettbewerbsdruck steigen wird. Es besteht damit die Hoffnung, dass sich die BS in die von Ihnen gewünschte Richtung bewegen. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass die BS insbesondere in Deutschland unter einem hohen regulatorischen Druck stehen. Der führt zu einem Bestreben des sich ständigen Absicherns. Genau dies führt dann zu einem Verhalten, die als „verkrustete Behördenmentalität“ wahrgenommen wird.
Nochmals besten Dank!
Herzliche Grüße, Christian Johner
Vielen Dank für Ihre Antwort.
Ich hoffe die digitale Transformation kommt hier nicht zu spät.
Ich bin vorsichtig optimistisch hinsichtlich des vielfach beschworenen Wettbewerbsdrucks auf die BS. Es handelt sich hier um systemrelevante Dienstleister mit staatlicher Legitimierung.
Sicherlich wird die Digitale Transformation neue Möglichkeiten erschaffen. So wird es mit cloudbasierenden eQMS möglich sein, entwicklungsbegleitende Konformitätsverfahren wie es die US-FDA schon mit vielen Initiativen implementiert hat, durchzuführen. Damit würden auch viele der sinnlosen Überwachungsaudits obsolet werden.
Allerdings glaube ich nicht, dass die BS ihr lukratives Geschäftsmodel einfach so adaptieren werden. Der angebliche Wettbewerb ist m.E. ein künstlich manupulierter Wettbewerb hin zu immer höheren Preisen für eine immer unzuverlässigere Dienstleistungsausführung.
Die BS wissen nur zu genau, dass ein Wechsel mit unkalkulierbaren Risiken und Kosten behaftet ist. Einer kaufmännisch denkenden Geschäftführung ist dies nur schwer zu vermitteln.
Da helfen nur radikale Veränderungen, um den Karren aus dem regulatorischen Sumpf zu ziehen.
Die Schweitz macht es vor. England wird nachfolgen. Vielleicht wird sich bald auch in der EU etwas in dieser Hinsicht bewegen. Das wäre wünschenswert. Die Anerkennung des US-FDA 510K Clearance Verfahrens wäre für viele Medizinprodukte eine grosse Chance.
In diesem Sinne,
Viele Grüsse aus Berlin.
Stephan Buttron