Seit einigen Jahren geht die Harmonisierung von Normen in der EU nur schleppend voran. Das bekommen Hersteller von Medizinprodukten derzeit vor allem im Rahmen der EU-Verordnung zu Medizinprodukten (Medical Device Regulation, MDR, (EU) 2017/745) zu spüren. Diese löste zwar 2021 die Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte (Medical Device Directive, MDD) ab. Doch zur Verordnung harmonisierte Normen gibt es noch immer kaum.
Dass die EU sich in den letzten Jahren mit der Harmonisierung schwertut, liegt unter anderem an zwei Urteilen europäischer Gerichte: Dem “James-Elliott-Urteil” des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus 2016 sowie dem “Global-Garden-Urteil” des Europäischen Gerichts (EuG) von 2017.
Autorin: Dr. Anja Segschneider
Dieser Beitrag:
- stellt Ihnen die beiden Urteile vor und
- erläutert, wie sie sich auf die Harmonisierung europäischer Normen auswirken und was das für Hersteller bedeutet.
1. Bedeutung harmonisierter EU-Normen
Mit der Hilfe von Normen können Hersteller von Medizinprodukten nachweisen, dass ihre Produkte die Anforderungen von rechtlichen Regelungen erfüllen. Normen sind Standards, die den Stand der Technik repräsentieren.
Beispiel:
Fordert die MDR ein Qualitätsmanagementsystem, können Hersteller sich an der ISO 13485 orientieren.
Harmonisierte Normen sind von der Europäischen Kommission selbst in Auftrag gegeben worden. Sie sind daher auf europäische Vorschriften abgestimmt und von den öffentlichen Stellen anerkannt.
Die EU-Verordnung 1025/2012 (Normungsverordnung) definiert den Begriff harmonisierte Norm als
eine europäische Norm, die auf der Grundlage eines Auftrags der Kommission zur Durchführung von Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union angenommen wurde
Art. 2 Abs. 1 c) Normungsverordnung
Stützen sich Hersteller auf harmonisierte Normen, besteht eine “Vermutungswirkung” für die Konformität mit den Rechtsvorschriften, zu denen sie harmonisiert sind.
Die jeweils mit einer bestimmten EU-Regelung harmonisierten Normen werden im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.
Beispiel:
- Erste Normen, die mit der MDR harmonisiert sind, hat die EU am 16. Juli 2021 veröffentlicht.
- Dazu gehört beispielsweise EN ISO 10993-23:2021 – Biologische Beurteilung von Medizinprodukten – Teil 23: Prüfungen auf Irritation (ISO 10993-23:2021).
- Lesen Sie mehr zur Harmonisierung von Normen in unserem Beitrag “Harmonisierte Normen: Beweisführung für Medizinproduktehersteller”.
- Den aktuellen Stand zur MDR können Sie im Beitrag “Medical Device Regulation MDR – Medizinprodukteverordnung (2017/745)” verfolgen.
2. Langsame Harmonisierung und die Gründe dafür
a) Aktuelle Situation
In den vergangenen Jahren veröffentlichte die Kommission jedoch immer seltener harmonisierte Normen. Dies bekommen Hersteller von Medizinprodukten vor allem im Zusammenhang mit der neuen MDR sowie der EU-Verordnung 2017/746 über In-vitro-Diagnostika (IVDR) zu spüren. Seit 2021 gilt die MDR verbindlich, die IVDR soll ab 2022 gelten.
Zu beiden Verordnungen sind Stand Oktober 2021 fast ausschließlich Normen betreffend die Sterilisation von Produkten sowie die Biokompatibilität harmonisiert. Bestrebungen, diese Liste zu erweitern, gibt es viele. Jedoch verzögern sich diese Verfahren.
- Durchführungsbeschluss zu den unter der MDR harmonisierten Normen
- Durchführungsbeschluss zu den unter der IVDR harmonisierten Normen
b) Gründe für die verzögerte Harmonisierung von Normen
Für die schleichende Harmonisierung sind unter anderem Konflikte zwischen der EU und Industrievertretern sowie der EU, der europäischen Normierungsorganisation CENELEC (Comité Européen de Normalisation Électrotechnique) und nationalen Behörden ursächlich.
Hinzu kommen auch Unstimmigkeiten, die einzelne Normen wie die ISO 14971 betreffen. Deren Harmonisierung mit der MDR lehnen die “HAS-Consultants” (Harmonised Standards Consultants) der EU-Kommission ab, was zu Problemen mit der Harmonisierung von Normen führt, die auf die ISO 14971 verweisen.
Eine ebenso große Rolle spielen die beiden Urteile “James Elliott” (EuGH 2016, Rs. C-613/14) sowie “Global Garden” (EuG 2017, Rs. T-474/15). Diese versetzten die EU-Kommission in Aufruhr und führten letztlich zur Änderung (und Verlangsamung) des Harmonisierungsprozesses.
3. Was die EU-Rechtsprechung zur Harmonisierung besagt
a) James-Elliott-Urteil
In seinem Urteil vom 27. Oktober 2016 stellte der Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) erstmals fest, dass harmonisierte Normen “Teil des Unionsrechts” seien. Damit wurde die Rechtssache James Elliott Construction Limited gegen Irish Asphalt Limited (oder auch schlicht “James-Elliott-Urteil”) zum Wendepunkt bei der Ausarbeitung harmonisierter Normen in der EU.
Ausgangslage
Der Bauunternehmer James Elliott hatte vor dem irischen Surpreme Court gegen seinen Lieferanten Irish Asphalt Limited wegen Verletzung vertraglicher Pflichten geklagt. Mit Irish Asphalt habe eine Vereinbarung zur Lieferung bestimmter Baustoffe von “handelsüblicher Beschaffenheit” bestanden.
Diese handelsübliche Beschaffenheit wurde durch eine irische Norm konkretisiert, welche die harmonisierte Norm EN 13242:2002 (“Gesteinskörnungen für ungebundene und hydraulisch gebundene Gemische für den Ingenieur- und Straßenbau”) national umsetzte. Die Norm EN 13242:2002 war im Auftrag der Kommission zur früheren Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG harmonisiert und im Amtsblatt der EU veröffentlicht worden.
Die Interpretation von EN 13242:2002 wurde zu einem zentralen Gegenstand des Rechtsstreits.
Der irische Surpreme Court wandte sich in der Folge im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) an den EuGH. Bei diesem Verfahren legt ein nationales Gericht bestimmte Fragen, die EU-Recht betreffen, dem EuGH vor. Nur der europäische Gerichtshof, nicht nationale Gerichte, ist für die Auslegung europäischen Rechts zuständig.
Die Krux daran: Bis zu diesem Zeitpunkt war offen, ob harmonisierte Normen als Teil des Unionsrechts anzusehen sind und damit der EuGH allein sie interpretieren darf. Für die Frage, ob der EuGH zuständig ist, musste der Gerichtshof sich also zur Natur von harmonisierten Normen äußern.
Aussagen über harmonisierte Normen des EuGH
Der EuGH erklärte sich für zuständig und stellte dabei fest, dass harmonisierte Normen in der Tat Teil des Unionsrechts seien.
Als Hauptargumente nannte der Gerichtshof dafür:
- Die Normen würden im (offiziellen) Amtsblatt der EU veröffentlicht
- Die Rechtswirkung von Normen sei die Vermutung der Konformität mit EU-Recht
- Harmonisierte Normen seien eine “Durchführungsmaßnahme” von EU-Recht (in der konkreten Rechtssache der Bauprodukterichtlinie) und zudem unter Aufsicht der Kommission entstanden.
Die Kontrolle der Kommission über die Ausarbeitung der harmonisierten Norm hob der EuGH besonders hervor.
Die Kommission beauftrage mit der Ausarbeitung der harmonisierten Normen das Europäische Komitee für Normung (CEN). CEN ist eine juristische Organisation des Privatrechts. Sie ist damit zunächst einmal unabhängig von den Organen der EU. Da CEN eine unabhängige Organisation ist, ließe sich annehmen, dass die EU nicht für Normen der Normungsorganisation verantwortlich ist.
Der EuGH betonte in seinem Urteil jedoch, dass die Kommission eine solch erhebliche Kontrolle über CEN ausübe, dass es sich um eine kontrollierte Delegation von Normung an eine privatrechtlich organisierte Normungsorganisation handele.
Die Kommission sei daher für Normen, die CEN im Auftrag erarbeite, verantwortlich.
Übertragbarkeit der Aussagen auf andere harmonisierte Normen?
Bei dem Urteil handelt es sich um eine spezifische Entscheidung für einen Einzelfall. Insbesondere war in der Rechtssache James Elliott die Durchführung der Bauprodukterichtlinie von der Existenz harmonisierter Normen abhängig. Das ist bei anderen EU-Regelungen nicht so. Anforderungen können in den meisten Fällen auch durch nicht harmonisierte Normen erfüllt werden. Insofern handelt es sich also gewissermaßen um einen Sonderfall.
Allerdings ist die Rechtsprechung des EuGH auch über einzelne Sonderfälle hinaus relevant. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Aussagen generalisieren und auch auf andere Fälle übertragen lassen.
Genau das trifft im James-Elliott-Urteil zu. Der EuGH stellte darin vor allem fest, dass
- Normen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens Teil des Unionsrechts sind und
- die Kommission, soweit sie Kontrolle über deren Ausarbeitung oder Veröffentlichung ausübt, auch für diese verantwortlich ist.
Diese Aussagen gelten unabhängig der Bauprodukterichtlinie. Und sie bedeuteten für die Kommission vor allem eins: Harmonisierte Normen konnten schlimmstenfalls ein Haftungsrisiko darstellen.
b) Global-Garden-Urteil
Bereits im Jahr 2017 beschäftigte sich ein europäisches Gericht erneut mit harmonisierten Normen.
Im Urteil vom 26. Januar 2017 (EuG Rs. T-474/15) des Europäischen Gerichts (EuG) ging es vor allem um die Relevanz der Veröffentlichung von harmonisierten Normen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften.
Auch hier betonte das Gericht die “offizielle” Natur derart veröffentlichter harmonisierter Normen und dass sich die Kommission daran messen lassen muss.
Ausgangslage
Die Global Garden Products Italy SpA (GGP Italy) hatte einen Rasenmäher in Verkehr gebracht, dessen Konformität mit der Maschinenrichtlinie (2006/42/EG; davor Richtlinie 98/37/EG) das Unternehmen 2012 nachwies. Hierfür stützte sich der Hersteller vor allem auf die harmonisierte Norm EN 60335-2-77:2006 („Sicherheit elektrischer Geräte für den Hausgebrauch und ähnliche Zwecke – Teil 2-77: Besondere Anforderungen für handgeführte elektrisch betriebene Rasenmäher (IEC 60335-2-77:1996, [modifiziert])”).
EN 60335-2-77:2006 war zur alten Maschinenrichtlinie 98/37/EG harmonisiert. Diese Richtlinie wurde jedoch bereits 2009 durch ihre Neufassung 2006/42/EG abgelöst. Die Kommission war daher der Ansicht, zur alten Fassung 98/37/EG harmonisierte Normen seien zur neuen Fassung 2006/42/EG nicht mehr harmonisiert und müssten überarbeitet werden.
Dies geschah denn auch mit EN 60335-2-77:2006. Bereits im April 2011 wurde deren Nachfolgerin EN 60335-2-77:2010 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Allerdings veröffentlichte die Kommission dabei kein Ablaufdatum für die ehemalige Norm EN 60335-2-77:2006. Die Rücknahme erfolgte erst am 1. September 2013.
Zeitlicher Ablauf der Ereignisse:
- 8. April 2011: Erste Veröffentlichung der harmonisierten Norm EN 60335-2-77:2010 im Amtsblatt;
- 3. September 2012: EG-Konformitätsnachweis für den fraglichen Rasenmäher in Bezug auf die harmonisierte Norm EN 60335-2-77:2006;
- 1. September 2013: Vom CENELEC festgelegtes Datum der Zurücknahme der harmonisierten Norm EN 60335-2-77:2006.
Die Frage lautete damit: Konnte sich Global Garden von 2012 bis zum 1. September 2013 noch auf EN 60335-2-77:2006 stützen?
Aussagen zu harmonisierten Normen
Das EuG bejahte dies und gab Global Garden recht. Das Gericht entschied, dass
- die Norm EN 60335-2-77:2006 auch unter der Neufassung der Maschinenrichtlinie weiter harmonisiert gewesen sei
- die Norm bis zu ihrer Rücknahme am 1. September eine Konformitätsvermutung begründet habe.
Das Gericht stützte sich in seiner Begründung u.a. auf das James-Elliott-Urteil des EuGH sowie das allgemeine Prinzip der Rechtssicherheit. Hersteller müssten sich aufgrund der weitreichenden Folgen darauf verlassen können, dass die Vermutungswirkung harmonisierter Normen nicht “einfach so” ende.
“Zwar entsteht durch die Auslegung der Kommission kein rechtsfreier Raum, da die Hersteller und ihre Bevollmächtigten die Erfüllung der grundlegenden Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen der einschlägigen Richtlinie für die Maschinen, die sie vermarkten wollen, auch mit anderen Mitteln dartun können als durch die Bezugnahme auf harmonisierte Normen, deren Fundstellen veröffentlicht wurden. Jedoch ist festzustellen, dass diese anderen Mittel weniger einfach sind. Folglich trägt die Kommission zumindest während eines bestimmten Zeitraums nicht dazu bei, den freien Verkehr der Waren im Binnenmarkt zu erleichtern und ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit und Sicherheit der Benutzer zu gewährleisten, wie dies die Rechtsgrundlage der Richtlinie 2006/42, Art. 114 AEUV, verlangt.”
Diese Aussage ist gerade in Hinblick auf andere Regelungen der EU, zu denen es harmonisierte Normen gibt und die durch neuere Regelungen ersetzt werden, interessant.
Übertragbarkeit der Aussagen?
Wie auch beim James-Elliott-Urteil des EuGH lässt sich bei der Global-Garden-Rechtsprechung des EuG festhalten, dass diese über den konkreten Streitfall hinaus relevant ist.
Jedoch muss in jedem Fall genau geprüft werden, ob tatsächlich eine vergleichbare Lage besteht.
Zudem war das Hauptargument des EuG die mangelnde Rücknahme der ehemals harmonisierten Norm. Wurde eine harmonisierte Norm ordnungsgemäß zurückgenommen, begründet sie keine Vermutungswirkung mehr. Diese Rücknahme muss laut EuG durch Veröffentlichung des “Datums der Beendigung der Annahme der Konformitätsvermutung (‚Dow‘)” geschehen.
Neuerdings vermerkt die Kommission in der jeweiligen Vorschrift zur Gültigkeit des Normungsauftrags ein Ablaufdatum der Geltungsdauer des Beschlusses.
Dennoch stellt das Global-Garden-Urteil klar, dass die Kommission sehr präzise in dem sein muss, was sie im Amtsblatt veröffentlicht. Sie ist an derartige Veröffentlichungen gebunden. Hersteller dürfen Rechtssicherheit erwarten.
“Wenn ein Rechtsakt allgemeiner Geltung nicht wegen seiner Unvereinbarkeit mit einer später ergangenen höherrangigen Vorschrift implizit aufgehoben wird und wenn bei seiner Veröffentlichung keine befristete Geltungsdauer verkündet wird, kann ein solcher Rechtsakt nur durch eine neue Entscheidung der zuständigen Behörde, die ihrerseits veröffentlicht wird, aufgehoben werden. Insoweit ist festzuhalten, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit, der ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, verlangt, dass die Rechtsvorschriften und Regelungen der Union klar und deutlich sind, und insbesondere, dass ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar ist”
- EuGH, Urteil vom 27.10.2016, James Elliott Construction, C-613/14, EU:C:2016:821
- Harmonisierte Normen sind Teil des Unionsrechts
- EuGH, Urteil vom 14.12.2017, Anstar Oy, C-630/16, EU:C:2017:971
- Bestätigung der Zuständigkeit für Auslegung von harmonisierten Normen
- EuG, Urteil vom 26.01.2017, Global Garden Products Italy SpA (GGP Italy) / Europäische Kommission, T-474/15, EU:T:2017:36
- Kommission verantwortlich für Konsequenzen der Veröffentlichung harmonisierter Normen im Amtsblatt der EU
4. Konsequenzen der Urteile
a) Reaktion der Kommission
In beiden Urteilen stellten EuGH und EuG fest, dass sich Hersteller auf harmonisierte Normen berufen können und die Kommission für diese verantwortlich ist, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Und das, obwohl die Normen letztlich von einer unabhängigen Normungsorganisation ausgearbeitet werden.
Insbesondere das James-Elliott-Urteil hat die Kommission zu verschiedenen Maßnahmen veranlasst. Im November 2018 veröffentlichte sie unter anderem unter Bezugnahme auf das Urteil eine Mitteilung zu harmonisierten Normen. Darin kündigte sie drei Sofortmaßnahmen “zur Erhöhung der Transparenz, zur Stärkung der Rechtssicherheit und zur Beschleunigung der Annahme” an:
- “Die Kommission bemüht sich nach besten Kräften, den Rückstand [bei der Harmonisierung] so schnell wie möglich abzubauen.”
- “Die Kommission überprüft derzeit ihre internen Entscheidungsprozesse im Hinblick auf die Straffung der Verfahren, die für die Veröffentlichung von Verweisen auf harmonisierte Normen im Amtsblatt angewendet werden.”
- “Die Kommission wird in Abstimmung mit den Interessenträgern in den kommenden Monaten einen Leitfaden zu den praktischen Aspekten der Umsetzung der Normungsverordnung ausarbeiten, wobei sie insbesondere auf die Aufteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten bei der Entwicklung harmonisierter Normen sowie auf Effizienz und Geschwindigkeit eingehen wird.”
Besagter Leitfaden sollte die bestehenden Dokumente, den Blue Guide und das Vademecum, ergänzen und Neuerungen beim Harmonisierungsverfahren sowie die Rolle der Kommission und der von ihr eingesetzten Fachberater (HAS-Consultants) erläutern.
Die angekündigte Konsultation ergab kein einheitliches Bild. Im April 2021 veröffentlichte die Medical Device Coordination Group (MDCG) eine neue Leitlinie (Guidance Note), in der sie sich zur Harmonisierung äußert.
Im Ergebnis hat die Kommission durch neue Verfahrensregeln ihre Prüfung von Normen stark ausgeweitet.
b) Neue Verfahrensregeln
Insbesondere in Folge der Rechtsprechung hat die Kommission ihr Verfahren bei der Harmonisierung von Normen geändert. Wie sehr, hat u. a. 2020 ein Rechtsgutachten im Auftrag des Wirtschaftsministeriums (BMWi) festgestellt:
- Die Normen werden nicht mehr über die Veröffentlichung der Fundstellen harmonisierter Normen in Form einer Mitteilung in der Reihe C (Communication) des Amtsblatts veröffentlicht, sondern in Form eines Durchführungsbeschlusses in Teil L (Legislation).
- Die Kommission lässt sich beim Normungsverfahren durch “HAS-Consultants” (Harmonised Standards Consultants) unterstützen (früher gab es “NA-Consultants” (New Approach Consultants).
- Die Normungsaufträge identifizieren die zu erlassenden harmonisierten Normen weitaus detaillierter als zuvor.
- In der jeweiligen Vorschrift zur Gültigkeit des Normungsauftrags steht nun ein Ablaufdatum der Geltungsdauer des Beschlusses.
Zudem hat die Kommission kurz nach dem James-Elliott-Urteil eine Checkliste für ein internes Prüfungsverfahren für die Veröffentlichung von Normen entwickelt.
- Schritt: Überprüfung der Verfahrensmodalitäten der Normungsverordnung (Art. 3, 5 und 6)
- Schritt: Quantitative Überprüfung hinsichtlich der rechtlichen Anforderungen, die auf der Grundlage des Standardisierungsersuchens abgedeckt werden
- Schritt: Qualitative Analyse. Laut genanntem Rechtsgutachten des BMWi ist die Reichweite dieses Schritts unklar.
“So soll beispielsweise geprüft werden, ob eine Norm in sich widersprüchlich ist, eine bestimmte Anforderung in Wahrheit nicht (vollständig) abdeckt oder dem Verwender eine Wahlmöglichkeit eröffnet, die in dem betreffenden Harmonisierungsakt nicht vorgesehen ist. Andere Fragen könnten dagegen darauf hindeuten, dass die Kommission für sich bzw. die sie unterstützenden Consultants bereits seit Ende 2016 auch eine (punktuelle) inhaltlichtechnische Prüfbefugnis in Anspruch nehmen wollte: Eine der Bewertungsfragen verlangt jedenfalls für den Fall einer Überarbeitung einer bereits im Amtsblatt veröffentlichten Norm eine Bewertung, ob sich das Niveau der Sicherheit, Interoperabilität, Wiederholbarkeit, die Reproduzierbarkeit usw. verschlechtert hat und die Entwicklungen des Standes der Technik oder der tatsächlichen Rechtslage außer Acht lässt. Auch hier soll eine solche Prüfung aber nur relativ, d. h. im Vergleich zum zuvor veröffentlichten Standard vorgenommen werden; eine originäre technische Überprüfung ist mithin auch hier nicht vorgesehen.”
Quelle: Dingemann/Kottmann, Rechtsgutachten im Auftrag des BMWi
c) Auswirkung auf Harmonisierung inkl. MDR und IVDR
Dieses ausgedehnte “Vorprüfverfahren” ist vermutlich auch ein Grund für die Verzögerungen bei der Harmonisierung von Normen.
Insbesondere bei den ohnehin schon recht problematischen Neuerungen von MDR und IVDR fehlt nun zusätzlich die Harmonisierung.
Dass unter der MDD harmonisierte Normen unter der MDR als nicht mehr harmonisiert gelten sollen, hat die Kommission in ihrem Durchführungsbeschluss (EU) 2020/437 vom 24. März 2020 erwähnt. Darin heißt es:
“Die harmonisierten Normen für Medizinprodukte, die zur Unterstützung der Richtlinie 93/42/EWG erarbeitet wurden und in den Anhängen I und II dieses Beschlusses aufgeführt sind, dürfen nicht dazu herangezogen werden, die Vermutung der Konformität mit den Anforderungen der Verordnung (EU) 2017/745 zu begründen.”
Die u. a. vom EuG geforderte Rechtssicherheit für Hersteller ist durch die fehlende Harmonisierung nicht mehr gewährleistet.
Die ausgeweitete Prüfung der Kommission führt außerdem dazu, dass sie auch eher für harmonisierte Normen haftbar ist. Denn ihre Haftung reicht so weit, wie sie Kontrolle über das Verfahren ausübt. Mehr Kontrolle, mehr Haftbarkeit.
“Die EU haftet nicht für Schäden, die aus Fehlern einer harmonisierten Norm selbst resultieren. Eine Haftung kommt aber für von der Kommission im Rahmen der Normungsverordnung getroffene Entscheidungen über Normungsaufträge, Veröffentlichungen von Fundstellen harmonisierter Normen im Amtsblatt oder formelle Einwände in Betracht. Die Haftungsverantwortung der EU reicht damit nur so weit wie die Prüfungspflicht der Kommission.”
Quelle: Dingemann/Kottmann, Rechtsgutachten im Auftrag des BMWi
Dass das das Ziel der Kommission war, lässt sich sicher bezweifeln. Die von ihr ergriffenen Maßnahmen lassen eher die Vermutung zu, dass sie eine Haftung für harmonisierte Normen sowie den Harmonisierungsprozess eigentlich gern vermeiden wollte.
d) Auswirkungen auf Hersteller
Die Anwendung harmonisierter Normen bleibt grundsätzlich freiwillig. Das bedeutet, dass Hersteller sich in der Regel auch auf andere Normen stützen können, um die Konformität mit den Anforderungen einer rechtlichen Regelung nachzuweisen.
Allerdings fehlt ohne harmonisierte Normen die Vermutungswirkung. Die Beweisführung wird dadurch für Hersteller unter Umständen umständlicher, was wiederum zu Verzögerungen und Kosten führen kann.
Zudem mangelt es gerade bei ehemals harmonisierten, aber nicht mehr aktualisierten (und daher abgelaufenen) Normen an Verlässlichkeit: Greifen Hersteller auf diese zurück, können sie oft nicht sicher sein, ob diese noch den Stand der Technik beschreiben.
e) Sinnvolles Vorgehen der EU?
Die Frage, ob die Reaktion der Kommission auf das James-Elliott-Urteil und die nachfolgende Rechtsprechung in ihrem Ausmaß sinnvoll oder notwendig war, war unter anderem Gegenstand des bereits erwähnten Rechtsgutachtens aus dem Jahr 2020 im Auftrag des BMWi. Die Autor:innen kommen darin zu dem Schluss, dass die Kommission ihre Haftung durch ihre Maßnahmen u. U. ausweite und zudem die Harmonisierung verzögere.
“Die Tendenz der Kommission, ihren Prüfungsumfang deutlich auszuweiten, ist vor diesem Hintergrund nicht geeignet, ihr Haftungsrisiko zu reduzieren, sondern kann im Gegenteil potenziell zu einer Ausweitung ihrer Haftung führen.“
“[…] Die dadurch entstehenden Verzögerungen bei der Veröffentlichung selbst positiv bewerteter Normen haben sich, wie Daten von CEN/CENELEC belegen, bereits aktuell realisiert.”
Quelle: Dingemann/Kottmann, Rechtsgutachten im Auftrag des BMWi
Fehlinterpretation der Kommission
Es ist daher durchaus naheliegend anzunehmen, dass die Reaktion der Kommission auf eine Fehlinterpretation der Rechtsprechung zurückgeht. Dies ergibt sich auch aus ihrer 2018 veröffentlichten Mitteilung zu harmonisierten Normen. Darin weist sie explizit darauf hin, dass sie das James-Elliott-Urteil so interpretiere, dass sie ihre Prüfungspflichten ausweiten müsse:
“Die Kommission ist daher verpflichtet, den Entwicklungsprozess harmonisierter Normen gründlich zu verfolgen und zu bewerten, ob sie die in harmonisierten Rechtsvorschriften der Union und/oder Normungsaufträgen festgelegten Anforderungen erfüllen, um zu gewährleisten, dass harmonisierte Normen vollständig mit den geltenden Rechtsvorschriften in Einklang stehen. Dies umfasst nicht nur die technischen Aspekte von Normen, sondern auch andere Elemente der europäischen Normungsverordnung, wie etwa die Frage, ob ihr Entwicklungsprozess inklusiv war. Die Kommission beabsichtigt, diese Verpflichtungen so schnell und effizient wie möglich zu erfüllen.”
Quelle: EU-Kommission, Mitteilung zu harmonisierten Normen
Das Rechtsgutachten kommt dagegen zu dem Schluss, dass die Rechtsprechung des EuGH eine solche Verpflichtung der Kommission nicht begründe.
“Eine Aufforderung an die Kommission, ihre Prüfung harmonisierter Normen auszudehnen, ist damit ersichtlich nicht verbunden.”
Quelle: Dingemann/Kottmann, Rechtsgutachten im Auftrag des BMWi
Dies widerspricht nämlich sowohl Sinn und Zweck der Beauftragung einer weitestgehend unabhängigen Normungsorganisation mit der Ausarbeitung von Normen als auch dem James-Elliott-Urteil selbst. Als “Teil des Unionsrechts” können Normen daher nur in Zusammenhang des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV gelten.
“Zum zweiten hätte die Qualifizierung harmonisierter Normen als ‘echte‘ Unionsrechtsakte wohl auch zur Folge, dass diesen sämtliche Charakteristika des Unionsrechts zukämen, also insbesondere Vorrang vor sämtlichen entgegenstehenden nationalen Bestimmungen. Auch dies hat der Unionsgesetzgeber ersichtlich nicht beabsichtigt. Es stünde auch im Widerspruch zum Urteil in der Rechtssache James Elliott selbst. Darin geht der EuGH gerade nicht von einem allgemeinen Vorrang harmonisierter Normen gegenüber mitgliedstaatlichem Recht aus, da Vorschriften des nationalen Kaufvertragsrechts von diesen Normen abweichende Anforderungen an die Brauchbarkeit von Produkten statuieren können”
Quelle: Dingemann/Kottmann, Rechtsgutachten im Auftrag des BMWi
Keine zu genaue Prüfung durch Kommission erlaubt
Eine zu genaue Prüfung durch die Kommission, insbesondere auch eine genaue technische Überprüfung der von den Normungsorganisationen erarbeiteten harmonisierten Normen, würde außerdem gegen Art. 10 Abs. 5, 6 der Normungsverordnung verstoßen.
“Insbesondere liefe es dem Wesen und Zweck des New Approach [beinhaltet u. a. Beauftragung der Normungsorganisationen mit der Ausarbeitung harmonisierter Normen; Anm. der Redaktion] zuwider, wenn die Kommission mithilfe von HAS Consultants letztlich den Normungsprozess duplizieren und ihre Einschätzung an die Stelle der Einschätzung der Normungsgremien setzen könnte.“
Quelle: Dingemann/Kottmann, Rechtsgutachten im Auftrag des BMWi
Wie weit die Replikation des Normungsprozesses durch die Kommission geht, ist in den aktuellen Dokumenten, wie der Leitlinie (Guidance Note) der Medical Device Coordination Group (MDCG) aus 2021, nicht genau ersichtlich.
Eine weitere Ausweitung der Prüfung durch die Kommission wäre jedoch nach dem bisher Gesagten problematisch.
5. Fazit
Aufgrund einer vermutlichen Fehlinterpretation insbesondere des James-Elliott-Urteils hat die Kommission vor einigen Jahren ihr Verfahren für die Harmonisierung von Normen geändert und dabei ihre Prüfung ausgeweitet. Dies führt nun wohl, neben anderen Faktoren, auch zu einer verzögerten Harmonisierung.
Anstatt damit einer vermeintlichen Verpflichtung nachzukommen, vernachlässigt die Kommission dadurch eher ihre Pflichten, nämlich Rechtssicherheit für Hersteller durch harmonisierte Normen zu schaffen und dadurch u. a. die Sicherheit von Produkten und den freien Warenverkehr zu gewährleisten.
Es bleibt zu hoffen, dass sich dies bald wieder ändert. Doch derzeit sieht es nicht danach aus, dass dieses Problem rasch aus der Welt geschafft wird.
Danke sehr für die Zusammenfassung der beiden Urteile des EUGH und deren Auswirkungen.
eine kleine Anmerkung zu Abschnitt 1:
„Mit der Hilfe von standardisierten Normen können Hersteller ..“, ich denke, Sie wollten schreiben „Mit der Hilfe von *harmonisierter* Normen können Hersteller ..“
Begründung: eine Norm ist per se standardisiert.
Lieber Herr Pianegonda,
Sie haben natürlich absolut recht, das doppelt sich. In diesem Fall war es aber sogar eine absichtliche Doppelung, um den Vorteil von Normen (Standardisierung) zu betonen. Ich schaue einmal, ob sich das treffender formulieren lässt!
Danke Ihnen für den Hinweis!
Herzliche Grüße
Anja Segschneider