Zahlreiche Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und sonstige Vorgaben, die spezifisch für Kinder sind, stellen Anforderungen an die Medizinproduktehersteller.
Was ein Kind ist, definieren diese Regularien dagegen nicht oder nur widersprüchlich.
Die Antwort auf die scheinbar einfache Frage „Was ist ein Kind?“ fällt somit nicht leicht. Sie ist aber wichtig, um die Anforderungen z. B. der MDR und der IVDR zu erfüllen.
Diese Problem betrifft viele Begriffe, die Regularien im Zusammenhang mit bestimmten Altersgruppen verwenden:
- Embryo
- Fötus
- Säugling
- Krabbelkind
- Kleinkind
- Kind/Kinder
- Jugendliche/r
- Heranwachsende/r
- Minderjährige/r
1. Altersspezifische Anforderungen
a) MDR
Klinische Prüfungen
Die MDR fordert bei klinischen Prüfungen, dass
bei Forschungsvorhaben mit stillenden Frauen in besonderem Maße dafür Sorge getragen wird, dass eine Beeinträchtigung der Gesundheit des Kindes ausgeschlossen ist.
MDR Artikel 66
Bereits der Prüfplan muss Informationen zu den Prüfungsteilnehmern enthalten,
gegebenenfalls Informationen zu schutzbedürftigen Prüfungsteilnehmern wie Kinder, Schwangere und immunschwache oder ältere Prüfungsteilnehmer.
MDR Anhang XV, Kapitel 2, Abschnitt 3.6.3
Die Einwilligung für die Teilnahme von Minderjährigen an klinischen Studien müssen deren gesetzliche Vertreter erteilen (MDR Artikel 68 (2) a). Gegebenenfalls muss der/die Minderjährige sogar zusätzlich zustimmen (MDR Artikel 63 (7)). Selbst dann sind die Anforderungen an die klinischen Prüfungen mit Minderjährigen hoch (Artikel 65).
Grundlegende Sicherheits- und Leistungsanforderungen
Wenn Hersteller krebserzeugende, erbgutverändernde oder fortpflanzungsgefährdende Stoffe (CMR-Stoffe) verwenden, müssen die Hersteller dies rechtfertigen. Dieser Begründung muss darauf eingehen, ob
die bestimmungsgemäße Verwendung dieser Produkte die Behandlung von Kindern oder von schwangeren oder stillenden Frauen oder von anderen Patientengruppen, die als besonders anfällig für diese Stoffe und/oder Werkstoffe gelten, umfasst.
MDR Anhang I, Absatz 10.4.2
Generell müssen die Hersteller von Medizinprodukten, die kritische Stoffe verwenden, welche zur Behandlung von Kindern (und anderen vulnerablen Patientengruppen) vorgesehen sind,
in der Gebrauchsanweisung Informationen über Restrisiken für diese Patientengruppen und gegebenenfalls über angemessene Vorsichtsmaßnahmen erteilen.
MDR Anhang I, Absatz 10.4.5
Klinische Bewertung
Die MDR nennt im Kontext der klinischen Bewertung nicht explizit spezifische Altersgruppen wie Kinder oder Jugendliche. Aber sie besteht darauf, dass Hersteller bei der Diskussion der klinischen Äquivalenz das Alter der Patientenpopulation vergleichen.
Hier entsteht ein Problem, weil die Hersteller bei der Patientenpopulation oft keinen Altersbereich angeben, sondern Angaben wie „Kinder“ oder „Jugendliche“ verwenden.
Festlegung der Patientenpopulation
Die Hersteller müssen die „Patientengruppe […] sowie sonstige Erwägungen wie Kriterien zur Patientenauswahl“ in der Zweckbestimmung und damit als Teil der technischen Dokumentation ausweisen (Anhang II Abschnitt 1; Anhang IX, Kapitel II Abschnitt 5.1.d).
Es ist erlaubt, dass die Benannten Stellen die Zweckbestimmung eines Produkts auf bestimmte Patientengruppen beschränken (Artikel 56 zu den Konformitätsbescheinigungen).
b) MDCG
Gleich mehrere MDCG-Dokumente nutzen Begriffe wie child oder infant, ohne diese zu definieren.
MDCG 2019-9 (Summary of safety and clinical performance)
Die Leitlinie MDCG 2019-9 bestimmt die Anforderungen an die Berichte zur Sicherheit und klinischen Leistungsfähigkeit, wie sie die MDR in Artikel 32 fordert.
Ein Teil des Berichts muss die Zweckbestimmung beinhalten, die wiederum die Indikationen für die Anwendung des Produkts enthalten soll.
“The indications shall be described. […] The target population(s) shall be specified, for example if the device is intended for adults and/or children and/or infants/neonates.”
MDCG 2019-9
Eine Definition der Begriffe child und infant fehlt.
MDCG 2020-16 (Guidance on Classification Rules for in vitro Diagnostic Medical Devices)
Die Leitlinie MDCG 2020-16 soll bei der Klassifizierung von Medizinprodukten dienen. Die Klassifizierungsregeln nennt die IVDR im Anhang VIII. Mehrere Regeln berücksichtigen Risiken für die „Nachkommen der getesteten Person“, ohne festzulegen, was ein Nachkomme ist.
Das MDCG-Dokument definiert den Begriff Nachkomme (offspring) wie folgt:
Diese Definition verwendet weitere Begriffe wie Embryo, Fötus, Frühchen (premature), Kind und Erwachsener. Einen Teil der Begriffe definiert die Leitlinie, z. B. Embryo (siehe unten). Den Begriff Kind spezifiziert die Leitlinie hingegen nicht.
2. Definitionen
Eine Vielzahl an Regularien definiert verschiedene Altersstufen. Bedauerlicherweise sind diese Definitionen nicht kongruent.
a) Bundesgesetze
Jugendschutzgesetz
Das Jugendschutzgesetz definiert in § 1 Kinder als “Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind“, und Jugendliche als Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind.
Jugendarbeitsschutzgesetz
Doch schon das Jugendarbeitsschutzgesetz gibt in § 2 eine andere Definition. Demnach ist ein Kind eine Person, die „noch keine 15 Jahre alt ist“, und ein Jugendlicher eine Person, die „15, aber noch nicht 18 Jahre alt ist“.
b) Ethische Leitlinie im Arzneimittelrecht
Die Leitlinie für klinische Studien bei pädiatrischen Populationen nutzt folgende Definitionen:
Der nächste Abschnitt definiert dann den Begriff der Minderjährigen (minors).
c) ICH E11
Das oben bereits erwähnte Dokument ICH 11 der EMA operiert mit den folgenden Altersklassen und Definitionen:
Altersklasse |
Alter |
newborn infants |
0 to 27 days |
infants and toddlers |
28 days to 23 months |
children |
2 to 11 years |
adolescents |
12 to 16-18 years (dependent on region) |
d) FDA
Eine vergleichbare Definition stammt von der FDA und ist in deren „Annual Report Premarket Approval of Pediatric Uses of Devices FY 2017“ zu finden.
Altersklasse |
Alter |
neonates |
birth until 1 month of age |
infants |
greater than 1 month until 2 years of age |
children |
greater than 2 years until 12 years of age |
adolescents |
greater than 12 years through 21 years of age [i.e., up to but not including the 22nd birthday] |
Diese Definitionen stützen sich u. a. auf weitere Definitionen, z. B. solchen aus dem Food, Drug and Cosmetic Act.
e) MDCG 2020-16
Die bereits erwähnte Leitlinie MDCG 2020-16 lässt zwar die Definition von child vermissen, definiert aber die Begriffe Embryo und Fötus, auch wenn sie diese nicht ganz sauber trennt bzw. z. T. gleichsetzt:
f) ISO/IEC Guide 50
Die Norm ISO/IEC Guide 50 trägt den Titel Safety aspects — Guidelines for child safety in standards and other specifications.
Altersklasse |
Alter |
babies or infants |
those not yet walking |
toddlers | children who can walk, but whose ambulatory skills are not fully developed and exhibit strong exploratory behaviour |
children |
persons aged under 14 years |
young children |
those past the toddler stage, but still developing basic skills, such as those aged 3 to 8 years […] |
older children |
those who are not yet adolescents: the upper age limit can vary, so the term can refer to those from approximately age 9 to age 12, 13 or 14. It is an age group that is increasingly independent, is capable of performing most adult tasks […] |
Die Norm können Sie hier kostenlos einsehen.
g) Kassenärztliche Bundesvereinigung
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV verwendet andere Definitionen:
Altersklasse |
Alter |
Neugeborenes |
bis zum vollendeten 28. Lebenstag |
Säugling |
ab Beginn des 29. Lebenstages bis zum vollendeten 12. Lebensmonat |
Kleinkind |
ab Beginn des 2. bis zum vollendeten 3. Lebensjahr |
Kind |
ab Beginn des 4. bis zum vollendeten 12. Lebensjahr |
Jugendlicher |
ab Beginn des 13. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr |
Erwachsener |
ab Beginn des 19. Lebensjahres |
h) ISO 7176-19:2008
Die ISO 7176-19:2008(en) zu den Rollstühlen wählt einen anderen Ansatz. Sie definiert die Altersklassen über deren Gewicht:
Altersklasse |
Gewicht |
Child | 22 kg ≤ Gewicht < 43 kg |
Adult |
Gewicht ≥ 43 kg |
i) Weitere Möglichkeiten
Abhängig von der Art des Produkts sind weitere Kategorien denkbar:
- Anatomische Merkmale z.B. Zähne, Gesichtsform, die man beim Passformtest bei FFP-2 Masken benötigt
- Körpergröße im Ganzen oder von einzelnen anatomischen Merkmalen wie z.B. die Größe der Füße oder der Arme beispielsweise für die Einstellung von Unterarmgehstützen
- Körpergewicht / BMI
- Entwicklungsmerkmale z.B. ob sich jemand im Wachstum befindet oder wie weit die geistigen Fähigkeiten entwickelt sind
Wenn Hersteller die Indikationen bzw. Kontraindikationen festlegen, sollten sie bei der Wahl dieser Klassifizierungsmerkmale besondere Situationen beachten wie:
- Kleinwüchsigkeit, Fehlen von Körperteilen oder andere körperliche Einschränkungen
- psychische und kogntive Einschränkungen
3. Zusammenfassung
Es gibt keinen Konsens
Es gibt keinen Konsens darüber, was ein Kind, ein Heranwachsender oder ein Erwachsener ist. Die Definitionen nutzen unterschiedliche Begriffe, verwenden unterschiedliche Messgrößen (Alter, Gewicht) und widersprechen sich dabei.
Das ist (nur) teilweise nachvollziehbar
Dass sich die Regularien gegenseitig zu ignorieren scheinen und damit die Hersteller in Schwierigkeiten bringen, ist bedauerlich. Wie soll beispielsweise ein Hersteller die Äquivalenz von Produkten bewerten, wenn nicht klar ist, was der Hersteller des Äquivalenzprodukts unter dem Begriff Kind versteht?
Andererseits ist es nachvollziehbar, dass in verschiedenen Kontexten verschiedene Altersgruppen anders definiert werden müssen:
Wenn es darum geht, dass sich ein Kind nicht die Finger verklemmt, kann die Größe des Kindes der entscheidende Parameter sein. In anderen Kontexten sind die kognitiven Fähigkeiten bei der Klassifizierung geeigneter, in wiederum anderen die motorischen Fähigkeiten.
Sie müssen definieren!
Als Hersteller sollten Sie daher die von Ihnen vorgesehene Patientenpopulation nicht anhand undefinierter Begriffe wie Kind spezifizieren. Vielmehr sollten Sie die Klassifizierungsmerkmale kontextspezifisch festlegen.
Prüfen Sie dafür zunächst, ob Sie bestehende Definitionen verwenden können.
Das spart bei Audits und in Zulassungsverfahren unnötige Diskussionen.
Nehmen Sie Kontakt auf, wenn Ihnen das Johner Institut dabei helfen kann, präzise Zweckbestimmungen zu erstellen und damit die Basis für eine „auditsichere“ Qualifizierung, Klassifizierung, klinische Bewertung und Zulassung Ihrer Produkte zu schaffen.
Danke an Bernward Reszel für die Zusammenstellung!
Lieber Herr Johner,
da wir unsere Produkte u.a. auch in den USA per 510(k) zulassen, haben wir die Thematik für uns dahingehend gelöst, dass wir die Definitionen der FDA anwenden. Diese haben wir auch in unserem QMS verankert und sind bis dato sehr gut damit gefahren. Zu finden waren die genauen Definitionen in der eSubmitter Software der FDA, als da noch das CDRH Modul für den „Quik Review Program Pilot“ verfügbar war. Sie lauten wie folgt:
☐ Adults (greater than 21 years of age)
☐ Neonate/Newborn (Birth through 28 days)
☐ Infant (from 29 days to 2 years of age)
☐ Child (from 2 years to 12 years of age)
☐ Adolescent (from 12 years to 18 years of age)
☐ Transitional Adolescent A (18 through 21 years of age)
☐ Transitional Adolescent B (18 through 21 years of age)
In der Software gab es auch noch weiterführende Informationen von der FDA:
* An adolescent turns to an adult the moment they turn 22 years of age (21 CFR 814.3(s))
* Transitional Adolescent A (18 through 21 years of age): Special Considerations are being given to this group, different from adults (22 years or age or older) –> Diese Gruppe wird medizinisch offensichtlich noch der Pädiatrie zugeordnet.
* Transitional Adolescent B (18 through 21 years of age): No special considerations compared to adults (22 years or age or older).
Wir verwenden diese Tabelle, um produktspezifisch die „Intended Population“ festzulegen. Als weiteres Kriterium legen wir in bestimmten Fällen zusätzlich auch noch das zulässige Patientengewicht fest.
Vielen Dank für Ihren Beitrag. Er war, wie immer, höchstinteressant!
Viele Grüße
Ihr Christian Zimmermann
…war auch einmal bei Fresenius 😉
Vielen herzlichen Dank, Herr Zimmermann, für diese sehr wertvolle Ergänzung!
So helfen sich die Fresenianer!
Mit nochmaligem Dank und mit den allerbesten Grüßen
Christian Johner