Krankenhaus-Informationssysteme als Systeme und Behandlungseinheiten unter Berücksichtigung der EuGH-Entscheidung vom 07.12.2017 (C-329/16)
Software-Systeme in Krankenhäusern beinhalten neben der Funktion der reinen Datenspeicherung, Archivierung oder Suchfunktion auch Funktionalitäten, die zur Behandlung oder Therapiebestimmung dienen und daher als Medizinprodukt zu qualifizieren sind. Diese Software-Systeme werden oft zusammen als ein Krankenhaus-Informationssystem (KIS) betrieben.
Lange Zeit war unklar, ob die Implementierung von einzelnen medizinrechtlichen Softwaremodulen automatisch die ganze Software bzw. ein Softwaresystem „infiziert“ und zu einem Medizinprodukt werden lässt. Die EuGH-Entscheidung vom 07.12.2017 (C-329/16) bringt Klarheit bezüglich der Kombination von mehreren Softwaremodulen. Der EuGH betont u.a., dass bei einer Software, die sowohl aus Modulen besteht, die der Definition des Begriffs „Medizinprodukt“ entsprechen, als auch solchen, die dieser Definition nicht entsprechen, nur die erstgenannten Module mit einer CE‑Kennzeichnung versehen werden müssen, da die anderen den Bestimmungen der Medizinprodukterichtlinie 93/42/EWG (Medical Device Directive; MDD) nicht unterliegen.
Dieser Beitrag untersucht, ob ein Krankenhaus-Informationssystem als System bzw. Behandlungseinheit i.S.d. der MDD und Medizinprodukte-Verordnung (EU) 2017/745 (Medical Device Regulation; MDR) anzusehen ist und wie dieser Umstand mit der EuGH-Entscheidung korreliert.
1. Begriff des Systems und der Behandlungseinheiten
Die medizinproduktrechtlichen Vorschriften sehen für Systeme und Behandlungseinheiten, welche neben Medizinprodukten mit einer CE-Kennzeichnung auch weitere Produkte ohne diese Kennzeichnung umfassen, die Notwendigkeit der Durchführung eines neuen Konformitätsbewertungsverfahrens vor (Art. 12 Abs. 2 S.2 1. Alt. MDD, § 10 Abs. 2 1.Alt. MPG, Art. 22 Abs. 4 1. Alt. MDR).
Weder die MDD noch das Medizinproduktegesetz (MPG) erklären, was unter den Begriffen „System“ und „Behandlungseinheit“ zu verstehen ist. Sie geben lediglich die Anforderungen an das Inverkehrbringen wieder. Der europäische Gesetzgeber entschied neuerdings, beide Begriffe in der MDR legal zu definieren:
Nach Art. 2 Nr. 10 MDR bezeichnet Behandlungseinheit „eine Kombination von zusammen verpackten und in Verkehr gebrachten Produkten, die zur Verwendung für einen spezifischen medizinischen Zweck bestimmt sind“. System bezeichnet nach Art. 2 Nr. 11 MDR „eine Kombination von Produkten, die zusammen verpackt sind oder auch nicht und die dazu bestimmt sind, verbunden oder kombiniert zu werden, um einen spezifischen medizinischen Zweck zu erfüllen“.
In beiden Fällen handelt es sich um eine Gesamtheit einzelner Produkte, die aus einer Mehrzahl von Medizinprodukten und/oder sonstigen Produkten zusammengesetzt werden (Sachs, in: Anhalt/Dieners, 2. Auflage 2017, § 24, Rn. 9; Lücker, in: Medizinrecht, 3. Auflage 2018, § 10 MPG, Rn. 2). Im Unterscheid zu anderen Medizinprodukten müssen Systeme und Behandlungseinheiten noch „kombiniert“ also zusammengesetzt werden. Sie dürfen daher keine bloße Sachgesamtheit darstellen.
Maßgeblich ist nach der MDR zudem, dass die Kombination von Produkten für einen spezifischen medizinischen Zweck erfolgt (Wagner, in: Rehmann/Wagner, 3. Auflage 2018, § 10 MPG, Rn. 6). Ein System bzw. eine Behandlungseinheit zeichnen sich danach dadurch aus, dass die Zusammensetzung der einzelnen Produkte, ähnlich wie ein Medizinprodukt, diagnostische oder/und therapeutische Zwecke verfolgt.
Lesen Sie hier mehr zum Thema Systeme und Behandlungseinheiten.
2. KIS als System bzw. Behandlungseinheit
Generell lässt sich sagen, dass mehrere Software-Module, die eine Software bilden, als eine Behandlungseinheit oder auch System angesehen werden können, sofern das Zusammensetzen der Module zur Erfüllung eines spezifischen medizinischen Zwecks geschieht. Erforderlich ist daher Erzeugung einer funktionalen Einheit zwischen den zu dem System oder der Behandlungseinheit zählenden Produkten, die der Erfüllung eines spezifischen diagnostischen oder therapeutischen Zwecks, wie die Verwendung zur Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, dient.
a) Holistisches Krankenhaus-Informationssystem
Involviert das Krankenhaus-Informationssystem KIS eines Herstellers auf einer zentralen Datenbank ein Gesamtpaket von konzeptionellen Modellen als ein holistisches System mit der Folge, dass der Anwender keine weiteren Schritte vornehmen muss, um das System zu nutzen, so liegt weder eine Behandlungseinheit noch ein System im medizinproduktrechtlichen Sinne vor, auch, wenn einzelne Module als Medizinprodukt qualifiziert sind. In solcher Konstellation fehlt es bereits an dem Akt des Zusammensetzens, also der Kombination von Produkten.
Die Norm der MDD und MDR erfordern eine tatsächliche Zusammensetzung im engeren Sinne, die noch vor der Abgabe als Einheit stattfindet (Lücker, in: Medizinrecht, 3. Auflage 2018, § 10 MPG, Rn. 2). Die holistischen KIS werden aber bereits als eine Einheit durch den Hersteller auf dem Markt bereitgestellt und in der Klinik als solche Einheit in Betrieb genommen, ohne dass eine Kombination der einzelnen Systeme zuvor erfolgen muss.
b) Heterogenes Krankenhaus-Informationssystem
Werden gemäß der Anwendungsinformation des Herstellers weitere (Installations-)Zwischenschritte erforderlich, bzw. beinhaltet ein Krankenhaus-Informationssystem KIS einzelne Komponenten von unterschiedlichen Herstellern mit der Folge, dass entweder mehrere Softwares oder auch nur einzelne Software-Module verschiedener Hersteller als heterogenes System in der Klinik implementiert werden soll, so liegt regelmäßig ein Zusammensetzen von Produkten vor. Die Einstufung als System oder Behandlungseinheit erfordert daher nur noch die Kombination zur Erfüllung eines spezifischen medizinischen Zwecks.
Werden in einem heterogenen KIS Module implementiert, welche der Definition des Begriffs „Medizinprodukt“ entsprechen, so muss differenziert werden, ob die Kombination dieses Moduls mit den weiteren Modulen (z.B. Patientendatenverwaltung, Planung, Steuerung, Abrechnung) zur Erfüllung eines spezifischen therapeutischen und/oder diagnostischen Zwecks erfolgt. Im KIS werden zwar regelmäßig sowohl administrative als auch medizinische Patientendaten verarbeitet.
Ein KIS dient jedoch in erster Linie der Erfassung, Bearbeitung, Speicherung und Bereitstellung von Informationen und Daten innerhalb eines Krankenhauses und nicht der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder einem anderen in Art. 1 Abs. 2 a) MDD oder Art. 2 Nr. 1 genannten Zweck. Dieser Anforderung entspricht grundsätzlich nur das medizinische Modul.
Die Kombination der verschiedenen Module erfolgt in der Regel dagegen nicht zur Verwendung für einen spezifischen therapeutischen oder diagnostischen Zweck. Denn anders als beispielsweise eine Hüftendoprothese, die im Wege des Zusammensetzens der einzelnen Komponente den medizinischen Zweck der Behandlung einer Erkrankung verfolgt, fehlt dem KIS ein medizinischer Verwendungszweck, auch wenn es in medizinischem Zusammenhang eingesetzt wird.
3. Berücksichtigung der EuGH Rechtsprechung
Die EuGH-Entscheidung vom 07.12.2017 (C-329/16) betraf eine Software, bei der eine der Funktionalitäten es ermöglicht, Patientendaten zu nutzen, um u. a. Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festzustellen. Diese Software stellt nach dem EuGH eindeutig ein Medizinprodukt dar, auch wenn es nicht unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt.
Aus der Entscheidung ergibt sich nicht, mit welchen Modulen die streitige Software ausgestattet war und welchen Verwendungszweck die Kombination der Module verfolgte. Der EuGH weist lediglich allgemein darauf hin, dass der Hersteller die Grenzen und Schnittstellen der verschiedenen Module anzugeben hat, wenn eine medizinische Software auch andere Module umfasst, die weder als Medizinprodukt noch als sein Zubehör zu qualifizieren sind. Da die Rede von einem Hersteller ist und der EuGH auf die Systeme und Behandlungseinheiten nicht einging, ist anzunehmen, dass die streitige Software als ein holistisches System ausgestattet war.
Die Einstufung als System oder Behandlungseinheit erfordert eine klare Bestimmung des medizinischen Verwendungszwecks der Kombination. Werden mehrere Softwaremodule entgegen ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung zu neuem System kombiniert, so wird ein neues Konformitätsverfahren nur dann notwendig, wenn bei der Kombination ein medizinischer Verwendungszweck verfolgt wird. Ist das nicht der Fall, so verbleibt es bei der Feststellung des EuGH, wonach nur die medizinischen Module zu zertifizieren sind, sofern sie abgrenzbar und die Schnittstellen eindeutig durch den Hersteller festgelegt wurden.
Praxistipp
Ein Krankenhaus-Informationssystem stellt regelmäßig weder ein System noch eine Behandlungseinheit i.S.d. MDD oder MDR dar, da dieses in erster Linie zur Erfassung, Bearbeitung, Speicherung und Bereitstellung von Informationen und Daten innerhalb eines Krankenhauses und weder zu diagnostischen noch therapeutischen Maßnahmen bestimmt ist.
Bei der Implementierung medizinischer Software-Module in Software, die nicht als Medizinprodukt zu qualifizieren ist, muss der Anwender stets den Verwendungszweck der Zusammensetzung beachten, sofern keine neue Zertifizierung beabsichtigt ist. Wird die Kombination zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken, entgegen der Zweckbestimmung des Herstellers des medizinischen Moduls, vorgenommen, so führt dies zur Herstellung eines neuen Produkts mit der Notwendigkeit der Durchführung eines Konformitätsbewertungsverfahrens.
Demzufolge ist bei der Aufstellung der Zweckbestimmung der Kombination besondere Vorsicht geboten, damit klar erkennbar ist, dass das neue System zur Anwendung für Menschen, u. a. für die Zwecke der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten sowie der Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen, nicht bestimmt ist.
Ferner muss eine klare Abgrenzung zwischen den medizinischen und nicht medizinischen Modulen erfolgen, indem eindeutige Grenzen und Schnittstellen der verschiedenen Module identifiziert werden können.
Autorin: Sonia Gabrielczyk, LL.M.
Dierks + Company
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Medizinrecht
Sie finden hier eine weitere Analyse der Folgen des EuGH-Urteils für Hersteller von standalone Software.
Persönlich finde ich es schwierig zu argumentieren, dass eine Implementierung eines medizinischen Software-Modules in eine Software, die nicht als Medizinprodukt zu qualifizieren ist, zu keinerlei Zweckbestimmungsänderung führt. Natürlich wäre es im Sinne des Zusammensetzenden, dass keine neue Zertifizierung benötigt wird, aber die realistische und meines Erachtens nach berechtigte Frage ist hierbei doch, warum man das medizinische Modul implementiert, wenn es für die Zweckbestimmung keine Auswirkung hat.
Zur Abgrenzung stellt sich mir die Frage, ob eine Abgrenzung mittels Lizenzgebung ausreichend ist.
Also ob man die einzelnen Module, die Bestandteil des KIS sind, mit Lizenzen freischalten kann.
Muss ein Modul auch ohne das KIS laufen, um eine Abgrenzung zu erreichen?
Sehr geehrter Herr Linz,
danke für Ihre direkte Frage.
Ein Modul muss nicht ohne das KIS laufen können, um als Modul ausreichend abgegrenzt zu sein.
Aus der Tatsache, dass ein Modul sich über eine Lizenz freischalten lässt, können einen ausreichenden Rückschlüsse über die Abgrenzung des Moduls gezogen werden. Dazu bedarf es einer Analyse der Software-Architektur. Kopplungsmetriken wären hier eine geeignetere Grundlagen einer Argumentation.
Beste Grüße, Christian Johner