„Gehen Sie nach dem PICO-Schema vor.“ So lautet die Empfehlung vieler Auditoren und Reviewer sowie einiger regulatorischer Dokumente (wie MDCG-Leitlinien und MEDDEV 2.7/1 rev.4), wenn es um präzise medizinische Literaturrecherchen geht.
Lesen Sie in diesem Artikel,
- was das PICO-Schema ist und welche Varianten Sie kennen sollten,
- bei welchen Aufgaben (auch außer der Literaturrecherche) Ihnen das PICO-Schema hilft und
- wie Sie ein PICO-Schema erfolgreich erstellen und anwenden.
1. PICO-Schema: Die Grundlagen
1.1 Definition
Das PICO-Schema ist ein Hilfsmittel zur Ermittlung von Schlüsselkonzepten eines Themas und zur Strukturierung von Literaturrecherchen. Es wird bei Themen verwendet, die eine Intervention oder Behandlung beinhalten.
Das Thema wird nach vier Aspekten strukturiert:
Aspekt | Erläuterung | |
P | Patient/Population | Beschreibung der Patientengruppe oder des Problems |
I | Intervention | Beschreibung der Hauptintervention oder Behandlung |
C | Comparison (Vergleich) | Alternative Behandlung oder Kontrollgruppe |
O | Outcome | Angestrebtes Ergebnis oder Zielgröße |
1.2 Beispiel
Fall 1: Recherche der Fachliteratur
Ihre Aufgabe besteht darin, für ein Wärmepack die relevante Fachliteratur zu recherchieren, um beispielsweise den Stand der Technik zu ermitteln.
Die Zweckbestimmung dieses Produkts besagt:
„Wärmepack zur Therapie von unteren Rückenschmerzen. Das Wärmepack hält eine Temperatur von 40°C über 8 Stunden. Es appliziert therapeutische Tiefenwärme und löst dadurch Muskelverspannungen und regt die Durchblutung im Gewebe an. Schmerzen werden reduziert.“
Aus dieser Zweckbestimmung können Sie die folgenden Aspekte übernehmen:
P | Patienten mit Rückenschmerzen |
I | Wärmepack, therapeutische Tiefenwärme, Wärmeapplikation, Wärmetherapie |
C | — |
O | Reduktion von Schmerz |
In diesem Beispiel ist der Aspekt C (Comparison) nicht betrachtet.
Fall 2: Bewertung einer Vergleichstherapie
Ihre Fragestellung bezieht sich auf eine Vergleichstherapie und lautet wie folgt:
„Ist die Anwendung eines Wärmepacks wirksamer als die Einnahme von 1.200 mg Ibuprofen täglich?“
Damit ergibt sich das vollständige PICO-Schema. Die Aspekte für die Studie zu Wärmepacks lauten:
P | Patienten mit Rückenschmerzen |
I | Wärmepack, therapeutische Tiefenwärme, Wärmeapplikation, Wärmetherapie |
C | 1200 mg Ibuprofen, NSAR |
O | Reduktion von Schmerz |
1.3 Varianten
Je nach Fragestellung und Kontext kann PICO um zusätzliche Komponenten erweitert werden.
1.3.1 PICOS
Die zusätzliche Komponente „S“ steht für Study Design (Studiendesign). PICOS bezieht das Studiendesign ein, um die Suche einzugrenzen, z. B. auf randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), Beobachtungsstudien oder systematische Reviews.
Die PICOS-Aspekte für eine erweiterte Studie zu Wärmepacks könnten lauten:
P | Patienten mit Rückenschmerzen |
I | Wärmepack, therapeutische Tiefenwärme, Wärmeapplikation, Wärmetherapie |
C | 1.200 mg Ibuprofen, NSAR |
O | Reduktion von Schmerz |
S | Randomisierte kontrollierte Studien |
1.3.2 PICOC
Die zusätzliche Komponente „C“ steht für Kontextfaktoren (Context), z. B. Komorbiditäten der Patienten, Umgebungsbedingungen oder Einstellungen, die die Ergebnisse beeinflussen können.
Die PICOC-Aspekte für eine erweiterte Studie zu Wärmepacks könnten lauten:
P | Patienten mit Rückenschmerzen |
I | Wärmepack, therapeutische Tiefenwärme, Wärmeapplikation, Wärmetherapie |
C | 1.200 mg Ibuprofen, NSAR |
O | Reduktion von Schmerz |
C | Chronische Schmerzen, Vielsitzer, Alter > 75 Jahre |
1.3.3 Weitere Varianten
Neben PICOS und PICOC existieren noch weitere Erweiterungen und Varianten, die für spezielle Anwendungsbereiche entwickelt wurden:
- PIPOH (Population, Intervention, Profession, Outcome, Healthcare Setting) für Fragen zur Versorgungsqualität
- SPIDER (Sample, Phenomenon of Interest, Design, Evaluation, Research Type) für qualitative Studien im Bereich der Krankenpflege
- PICO-D (Population, Issue, Context, Study Design) für psychologische Fragestellungen
Die Wahl der passenden PICO-Variante hängt von der konkreten Fragestellung und den Informationsbedürfnissen ab.
Je präziser die Fragestellung, desto gezielter die Suche und desto geringer der Aufwand für die Literaturauswertung.
2. Anwendungsbereiche des PICO-Schemas
2.1 Literaturrecherchen
Wissenschaftlich arbeitende Personen wie Ärztinnen und Ärzte, Clinical Affairs Manager, Medical Writer und Pharmakologen nutzen das PICO-Schema vor allem, um schnell und zielgenau klinische Literatur zu finden.
Diese Literaturrecherchen sind bei der Zulassung von Arzneimitteln und Medizinprodukten im Kontext der klinischen Bewertung vorgeschrieben:
- Stand der Technik ermitteln
- Nutzen-Risiko-Vergleiche anstellen
- Klinische Bewertung (auch mit diesen Informationen) durchführen
Mithilfe des PICO-Schemas werden Suchstrings für die Suchmasken von wissenschaftlichen Datenbanken formuliert. PICO wird also gleich zu Beginn der Literatursuche eingesetzt, konkret zum Zeitpunkt, an dem die Strategie für die Literatursuche entwickelt wird.
Weitere Tipps finden Sie im Fachartikel zur klinischen Literaturrecherche.
2.2 Evidenzbasierte Medizin
In der evidenzbasierten Medizin hilft das PICO-Schema, um evidenzbasiert Fragen zu beantworten wie:
- Ist Medikament A wirksamer als Medikament B bei der Behandlung von Erkrankung X?
- Führt eine minimalinvasive Operation zu besseren Ergebnissen als eine offene Operation bei Patienten mit Erkrankung Y?
- Reduziert die Impfung Z das Risiko für Infektion W bei Kindern im Vergleich zu keiner Impfung?
- Ist Test A genauer als Test B bei der Diagnose von Krankheit V?
- Verbessert ein spezielles Rehabilitationsprogramm die Mobilität bei Patienten nach einem Schlaganfall im Vergleich zu Standardrehabilitation?
Das PICO-Schema findet in der evidenzbasierten Medizin auch Anwendung, um Empfehlungen zu geben oder medizinische Leitlinien zu erstellen.
2.3 Erweiterte Zweckbestimmung formulieren
Auch beim Formulieren der erweiterten Zweckbestimmung ist das PICO-Schema hilfreich. Es kann beispielsweise als „Checkliste“ genutzt werden um herauszufinden, ob die Zweckbestimmung alle Aspekte abdeckt.
3. Bewertung des PICO-Schemas
3.1 Vorteile
Das PICO-Schema hat sich bewährt.
- Es ist weit verbreitet und schafft ein gemeinsames mentales Modell als Basis für die Zusammenarbeit.
- Es erleichtert die Übersetzung klinischer Fragen in Suchbegriffe und hilft somit, Literaturrecherchen schneller, strukturierter und präziser durchzuführen.
- Es hilft dabei, bessere (insbesondere relevantere) Suchergebnisse schneller zu erreichen.
- Es beschleunigt die Auswertung, weil weniger irrelevante Quellen gelesen, bewertet und ausgeschlossen werden müssen.
3.2 Regulatorische Pflicht?
Es gibt keine explizite regulatorische Pflicht zur Verwendung des PICO-Schemas. Es wird jedoch als Best Practice in der evidenzbasierten Medizin angesehen und von vielen Organisationen empfohlen.
Beim Schreiben der klinischen Bewertung sollten Hersteller relevante Guidance Dokumente beachten wie die MEDDEV 2.7/1 rev 4. und die MDCG-Leitlinie MDCG 2020-13. Beide schlagen das PICO-Schema vor. Daher sehen viele Prüfer von klinischen Bewertungen das PICO-Schema als obligatorisch und als Stand der Technik an.
3.3 Alternativlosigkeit(?)
Weder die MEDDEV 2.7/1 rev 4. noch die MDCG nennen eine Alternative zum PICO-Schema bei der Aufgabe, relevante Keywords und Suchstrings zu finden.
4. Erstellung eines PICO-Schemas
Damit Sie für Ihre wissenschaftliche Recherche das PICO-Schema erfolgreich erstellen und anwenden können, folgende Hinweise:
4.1 PICO-Schema abstimmen auf Aufgabenstellung
Es haben sich folgende Kategorien und Zuordnungen etabliert:
- Recherche des Stands der Technik
- Zweckbestimmung (= Intervention)
- Indikationen (Patientenpopulation)
- Generische Produktgruppe (= kein Vergleich)
- Klinischer Nutzen / Leistung / Sicherheit (Outcome)
- Produktsuche
- Name des eigenen Produkts
- Name des Unternehmens
- Suche nach Benchmark-Produkten
- Name des ähnlichen/äquivalenten Produkts
- Name des zugehörigen Unternehmens
4.2 Datenbankrecherche in fünf Schritten
Sobald Sie die spezifischen Keywords identifiziert haben, sollten Sie die folgenden Schritte durchführen:
- Fragestellung/Zweckbestimmung identifizieren
- Synonyme je Kategorie identifizieren
- Diese ins Englisch übersetzen (In wissenschaftlichen Datenbanken ist die Sprache Englisch.)
- Synonyme innerhalb einer Kategorie mit dem Booleschen Operator OR verknüpfen und in Klammern setzen
- Kategorien mit AND verknüpfen
So entsteht ein Suchstring, welcher in Suchmasken von Datenbanken wie PubMed, Embase oder Cochrane zur Literatursuche eingesetzt wird.
Beispiel: Suchstring für Hotpack
P | Patienten mit Rückenschmerzen |
I | Wärmepack, therapeutische Tiefenwärme, Wärmeapplikation, Wärmetherapie |
C | — |
O | Reduktion von Schmerz, VAS Score |
Backpain AND (hot pack OR therapeutic heat OR heat application OR heat therapy) AND (pain reduction OR VAS score) |
4.3 Die häufigsten Fehler
Typische Fehler beim Verwenden des PICO-Schemas und bei der Datenbanksuche sind:
- Es werden die falschen Booleschen Operatoren verwendet.
- Klammern werden falsch gesetzt.
- Es werden ungeeignete Keywords verwendet, bspw. Produktspezifikationen, die in Publikationen nicht detailliert beschrieben werden.
- Es entstehen Inkonsistenzen zwischen PICO-Elementen und der eigentlichen Forschungsfrage.
- PICO wird im falschen Kontext angewendet, z. B. bei Sicherheitsdatenbanken.
Zu viele Treffer in der Literatursuche (> 1.000) oder zu wenige Treffer (< 5) können ein Indikator dafür sein, dass das PICO-Schema nicht korrekt angewendet wurde.
4.4 Weitere Tipps
Bewährt haben sich die folgenden Vorgehensweisen:
- Verwenden Sie präzise und spezifische Begriffe.
- Berücksichtigen Sie relevante Synonyme für jeden PICO-Bestandteil.
- Passen Sie das Schema bei Bedarf an die spezifische Fragestellung an (z. B. PICOT oder PICOS).
- Nutzen Sie in PubMed die „Advanced Search“, die die Klammersetzung und die Booleschen Operatoren unterstützt.
- Greifen Sie bei der Suche nach Synonymen zurück auf medizinische Lexika, bekannte Publikationen im Feld sowie die Mesh-Datenbank bei PubMed.
Beim Erstellen von Leistungsbewertungen und klinischen Bewertungen bringt dieser Fachartikel zur Literatursuche Sie weiter.
4.5 Unterstützung nutzen
Die Scientific und Clinical Experts des Johner Instituts helfen Ihnen bei allen Aufgaben rund um die klinische Bewertung und den Post-Market Clinical Follow-up, z. B. durch:
- Review Ihres PICO-Schemas
- Review Ihrer Literatursuche
- Workshop zur Literatursuche; hier wird die Anwendung des PICO-Schemas ausführlich erklärt und demonstriert
- Erstellen des PICO-Schemas und Durchführen der Literatursuche
Melden Sie sich einfach, beispielsweise über die Kontaktseite, wenn Sie Hilfe benötigen oder einen Rat wünschen.
5. Fazit
Das PICO-Schema ist ein bewährtes und unverzichtbares Werkzeug für die Formulierung von Forschungsfragen und wissenschaftliche Recherchen.
Bei Medizinprodukte-, IVD- und Pharmaherstellern unterstützt PICO insbesondere alle wissenschaftlich und medizinisch arbeitenden Expertinnen und Experten.
Das PICO-Schema und seine Varianten zählen als Stand der Technik.