Sonderzulassungen sind ein Konzept der MDR (Artikel 59). Damit will der Gesetzgeber eine Möglichkeit schaffen, um in Not- bzw. Ausnahmefällen Medizinprodukte auch ohne vollständiges bzw. erfolgreiches Konformitätsbewertungsverfahren in den Markt zu bringen.
Sonderzulassungen sollten nicht mit Sonderfreigaben und Ausnahmegenehmigungen nach Artikel 97 verwechselt werden.
1. Das Konzept der Sonderzulassungen
a) Begriff
Die MDR verwendet den Begriff „Sonderzulassung“ nicht. Aber sie schafft im Artikel 59 ein Konzept, das einer Sonderzulassung entspricht. Sie nennt es „Ausnahme von den Konformitätsbewertungsverfahren„.
Artikel 59 der MDR erlaubt es den zuständigen Behörden, das Inverkehrbringen eines Medizinprodukts zu genehmigen, ohne dass ein reguläres Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt wurde. Das heißt, dass eine Inverkehrbringung ohne CE-Kennzeichnung ermöglicht wird.
b) Ziel des Gesetzgebers
Der Gesetzgeber will damit eine Möglichkeit schaffen, in Notsituationen die Verfügbarkeit von Medizinprodukten sicherzustellen, z. B. wenn ein dringender medizinischer Bedarf besteht und dieser nicht kurzfristig gedeckt werden kann. So soll bei dringend benötigten Medizinprodukten eventuell auftretenden Versorgungsengpässen entgegengewirkt werden. Ein Beispiel waren die Corona-Selbsttests während der Pandemie.
Ähnliche Verfahren gibt es in anderen Ländern, z. B. die „Emergency Use Authorization“ der FDA.
c) Abgrenzungen
Sonderfreigaben, Sonderzulassungen und Ausnahmegenehmigungen nach Artikel 97 unterscheiden sich in verschiedenen Aspekten.
Sonderzulassung | Sonderfreigaben | Ausnahmegenehmigungen | |
Rechtliche Grundlage | Artikel 59 MDR | ISO 13485, Kapitel 8.3.2 | Artikel 97 MDR |
Produkte sind bereits im Verkehr | Nein | Nein | Ja |
Über Ausnahme entscheidet | Nationale Behörde, z. B. BfArM | Hersteller | Nationale Behörde, z. B. Regierungspräsidien |
Ausnahme wird gewährt von | Gesetzlichen Anforderungen an die Konformitätsbewertung (zumindest teilweise) | Vorgaben des QM-Systems | Gesetzlichen Anforderungen an das Produkt oder/und das QM-System des Herstellers |
Grundlage der Entscheidung | Bedarfslage | Konformität mit gesetzlichen Grundlagen | Vertretbarkeit des Gesundheitsrisikos |
CE-Kennzeichnung weiter erlaubt | Nein | Ja | Ja |
Freiverkaufszertifikate möglich | Nein | Ja | Ja |
Die folgenden Teilkapitel beschreiben die Sonderfreigaben und die Ausnahmegenehmigungen nach Artikel 97 MDR.
d) Abgrenzung zur „Sonderfreigabe“
Sonderzulassungen und Sonderfreigaben dürfen nicht verwechselt werden.
Eine Sonderfreigabe ist ein Begriff aus der ISO 13485 (englisch: „concession“). Sonderfreigaben geben den Rahmen dafür ab, wie Hersteller mit nichtkonformen Produkten umgehen, insbesondere vor der Auslieferung.
Hier geht es um Produkte, welche ihre Spezifikation bzw. eine Anforderung nicht erfüllen. Das können harmlose Mängel sein, wie ein Makel der Lackierung, oder etwas, das sich auf die Sicherheit oder Wirksamkeit der Produkte auswirkt, etwa eine fehlerhafte Sterilisation vor Auslieferung.
Über eine Sonderfreigabe dürfen Hersteller in begründeten Fällen Produkte mit Nichtkonformitäten in den Verkehr bringen. Voraussetzung ist, dass die Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts nicht beeinträchtigt sind. Somit wäre eine Sonderfreigabe bei einer fehlerhaften Sterilisation nicht möglich.
e) Abgrenzung zur „Zulassung nach Artikel 97“
Ebenfalls nicht mit Sonderzulassungen zu verwechseln sind Produkte, die nach Artikel 97 der MDR im Verkehr bleiben dürfen.
Vorgehen der Behörde
Dieser Artikel 97 erteilt den zuständigen Behörden Befugnisse bei der Marktüberwachung von bereits in den Verkehr gebrachten Produkten.
Stellt eine Behörde fest, dass ein Produkt nicht konform ist zur MDR, dann darf sie die Behebung der Nichtkonformität verlangen. Dafür muss die Behörde eine Bewertung nach Artikel 94 durchführen.
Wenn die Behörde zu dem Ergebnis kommt, dass vom Produkt kein unvertretbares Gesundheitsrisiko ausgeht, auch wenn die MDR nicht in Gänze erfüllt wird, kann sie nach Artikel 97 eine Frist setzen zur Behebung der Nichtkonformität.
Anwendung des Artikels 97 bei MDR-Übergangsfristen
Dieses Verfahren ist aktuell im Gespräch im Zusammenhang mit den Übergangsfristen von der MDD zur MDR:
Die MDCG schlägt in der überarbeiteten Leitlinie 2022-18 vor, Artikel 97 zu nutzen, falls ein altes MDD-Zertifikat vor Erlangung eines MDR-Zertifikats abläuft und somit eine Nichtkonformität vorliegt.
Auch die neuen Übergangsbestimmungen nennen den Artikel 97 explizit. Demnach sollten Behörden den Artikel 97 in denjenigen Fällen anwenden, in denen das MDD-Zertifikat vor Inkrafttreten der neuen Übergangsbestimmungen abläuft oder abgelaufen ist.
2. Ablauf der Sonderzulassungen
Zurück zum eigentlichen Thema, den Sonderzulassungen:
Basierend auf Artikel 59 MDR regeln die Mitgliedsstaaten die Details zur Umsetzung der Sonderzulassung in ihren nationalen Gesetzen. In Deutschland ist § 7 Abs. 1 MPDG relevant. Dieser regulatorische Rahmen erlaubt Sonderzulassungen, falls eine Bedarfssituation besteht.
Schritt 1: Antragstellung durch den Hersteller
Diesen Bedarf muss der Hersteller in seinem Antrag an die Behörden ausreichend begründen. In Deutschland ist diese Behörde im Regelfall das BfArM, bei bestimmten IVD-Produkten das PEI.
Den Antrag reichen die Hersteller bei BfArM formlos ein. Er sollte Angaben zum Produkt sowie eine Begründung für die Notwendigkeit der Sonderzulassung enthalten. Zusätzlich wird die Behörde Nachweise verlangen zur Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts.
Schritt 2: Prüfung durch die Behörde
Die Behörde prüft dann, ob ein entsprechender Versorgungsengpass tatsächlich besteht und das Produkt für die Gesundheitsversorgung dringend benötigt wird. Dabei prüft sie auch, ob es alternative Produkte auf dem Markt gibt. Sie wird sicherlich auch prüfen, ob von dem Produkt oder ähnlichen Produkten schwerwiegende Gesundheitsrisiken ausgehen. Dazu wird sie auf Informationen aus der Marktüberwachung zurückgreifen.
Schritt 3: Genehmigung durch die Behörde
Im positiven Fall erteilt die Behörde eine Sonderzulassung, die im Regelfall zeitlich befristet ist.
Genaue Zeiträume für die Entscheidungsfindung und deren Bekanntgabe sind nicht vorgegeben. In der Corona-Pandemie gelang dies innerhalb weniger Wochen.
Schritt 4: Information der anderen Mitgliedsländer durch die Behörde
Die nationale Behörde unterrichtet anschließend die EU-Kommission und die anderen Mitgliedsstaaten.
3. Fallstricke, welche die Hersteller vermeiden sollten
a) Zulassung gilt nur national
Sonderzulassung gelten nur national, d. h. im jeweiligen Mitgliedsstaat, in dem der Hersteller eine Genehmigung seines Antrags erhalten hat. Eine Inverkehrbringung in anderen EU-Mitgliedsstaaten ist also nicht ohne Weiteres möglich.
Allerdings kann die Kommission in Ausnahmefällen in Zusammenhang mit der öffentlichen Gesundheit, der Patientensicherheit oder der Patientengesundheit im Wege von Durchführungsrechtsakten die Inverkehrbringung im ganzen EU-Raum genehmigen.
Auch diese Ausnahmegenehmigungen sind in der Regel befristet. Zudem legt die EU die Bedingungen fest, unter denen das Produkt in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden darf.
b) Freihandelszertifikate sind nicht möglich
Produkte, die von der Sonderzulassung profitieren, haben keine CE-Kennzeichnung. Das ist auch deshalb relevant, weil deshalb die Behörden in der Regel keine Freiverkaufszertifikate für Drittländer ausstellen.
c) Die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsnachweise sind zu erbringen
Die Sonderzulassung bedeutet jedoch nicht, dass die Hersteller auf die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsnachweise verzichten können. Auch in diesem Fall sollten die Hersteller die einschlägigen (harmonisierten) Normen einhalten.
Die Behörden fordern die möglichst vollständigen Nachweise an, verzichten aber bei Bedarf auf ausgewählte sowie auf den erfolgreichen Abschluss eines Konformitätsbewertungsverfahrens. Denn andernfalls wäre eine „normale“ Inverkehrbringung möglich.
d) Sonderzulassungen kosten Geld
Für die Bearbeitung verlangen die Behörden Geld. In Deutschland liegen die Kosten zwischen 250 und 10.300 Euro, wie in BMGBGebV Abschnitt 10 spezifiziert.
Unser Regulatory Experte Luca Salvatore beschreibt in dieser Podcast-Episode die verschiedenen Optionen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen. Er erklärt, wann Hersteller welche Option nutzen können, welche Voraussetzungen sie dazu erfüllen müssen und wie er dabei unterstützen kann.
Diese und weitere Podcast-Episoden finden Sie auch hier.
4. Zusammenfassung und Fazit
a) Vor- und Nachteile
Die verschiedenen Verfahren haben ihre jeweiligen Vor- und Nachteile.
Vorteile der Ausnahmegenehmigung nach Artikel 97
Gemäß Artikel 97 vorzugehen, bietet Vorteile gegenüber der Sonderzulassung:
- Die Ausnahmegenehmigung hat eine höhere Erfolgschance.
- Es gibt keine Beschränkung auf einen Mitgliedsstaat.
- Die Produkte dürfen das CE-Kennzeichen weiterhin tragen.
- Das ermöglicht auch die Ausstellung von Freiverkaufszertifikaten.
- Die Hersteller müssen keinen Versorgungsengpass begründen.
Eine Beantragung dieser Ausnahmegenehmigung empfiehlt sich, wenn „nur“ das Zertifikat abgelaufen ist.
Vorteile der Sonderzulassungen nach Artikel 59
Die Sonderzulassungen nach Artikel 59 bieten andere Vorteile:
- Die Produkte müssen nicht bereits ein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen haben und benötigen keine CE-Kennzeichnung.
- Das ermöglicht sogar eine Inverkehrbringung ohne Einbeziehung einer Benannten Stelle.
Generell sind die Chancen einer Sonderzulassung als gering anzusehen, es sei denn, es liegt eine pandemische Lage vor oder es handelt sich um spezielle, alternativlose Produkte.
b) Der „richtige“ Weg
Welchen Weg die Hersteller wählen sollten, um ihre Produkte jenseits der normalen Wege in den Verkehr zu bringen, hängt von vielen Parametern ab:
- Art des Produkts
- Angestrebter Markt
- Vorhandensein eines CE-Kennzeichens
- Verfügbarer Zeitrahmen für eine Inverkehrbringung
Das Johner Institut hilft Herstellern gezielt dabei,
- das passende Verfahren auszuwählen,
- von den Übergangsbestimmungen zu profitieren,
- unnötige Aufwände und Kosten zu sparen und
- eine „vollwertige Zulassung“ ihrer Produkte zu erreichen – nicht nur in der EU.
Melden Sie sich gerne, wenn Sie Ihre Produkte schnell, sicher und mit minimalem Aufwand in den Verkehr bringen möchten.